Die Übereinstimmung von Gegensätzen
Lange Zeit wurde behauptet, dass alle entscheidenden Versuche in der Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts in der Zeit der frühen Moderne unternommen wurden. Alles Spätere wäre eine epigonale Wiederholung oder im besten Fall eine eklektische Umarbeitung. Wäre dies wahr, müssten – lange vor der Postmoderne und den musterhaft angepassten Werken der Political Correctness vom Ende des letzten Jahrhunderts – sämtliche innovativen Strömungen mit dem Präfix „post“ versehen werden. So einfach ist es aber nicht. Keine formelle Sequenz darf ausgeschlossen werden, nur weil ihre Möglichkeiten ausgeschöpft wurden. Der Begriff „alles“ existiert nicht im Kontext der intellektuellen und formalen Möglichkeiten des Menschen, auch nicht im Zusammenhang mit dem Menschen als Künstler, dessen Möglichkeiten unbegrenzt sind, wo die Dekonstruktion gleichzeitig Konstruktion ist oder zumindest sein soll
(F. N. Mennemeier).
Małgorzata Jastrzębska versucht sich an der „Dekonstruktion“, indem sie in ihren Werken zu Elementen greift, die gerne in der abstrakten Kunst verwendet werden (Kreise, Streifen, Dreiecke, Linien, dreidimensionale Formen). Sie analysiert Relationen, die zwischen ihnen entstehen – die gegenseitige Anziehung oder Abstoßung, die Ergänzung, das Zusammenspiel des Waagerechten mit dem Senkrechten, die Disharmonie zwischen ihnen, die Übertragung einer Form auf die andere, das Verschwinden und die Zurücksetzung der Perspektive und ihren Bruch. Die Verwirrung, die durch die Vielfalt der interpretationsreichen Elemente entsteht, ist im Endeffekt ein organisiertes Chaos. Ähnliches passiert im alltäglichen Leben: Die Umgebung greift uns ständig mit visuellen Botschaften und Signalen an. Uns erreichen die, die uns am meisten ansprechen, und die aufdringlichsten, denen wir uns unterbewusst fügen. Ähnlich wirkt ein Bild – wir nehmen das wahr, was uns am nächsten steht (das kann eine Form, eine Farbe, eine Stimmung, ein Gedanke oder ein Gefühl sein), oder wir geben einer aggressiven Expression nach.
Małgorzata Jastrzębska lässt uns die freie Wahl, indem sie in ihren Werken Elemente des Konstruktivismus mit der Reizung der Op-Art verbindet – ein Zusammenspiel des Gleichgewichts der geometrischen Abstraktion mit dem Schwung des Futurismus. Als Vorwand für das Spiel mit Formen, Tiefe und Raum dient die Geometrie der Linien, Kreisen und Rechtecken. Farbe – etwas Unbegrenztes und schwer Greifbares, was der Mensch durch Struktur und Ordnung in Form bringt – spielt auch eine wichtige Rolle. Jemand hat einmal festgestellt, dass die wichtigste Farbe das Licht sei;
daher ist es auch in diesen Bildern zu sehen, manchmal blendet es sogar. Das Licht, das aus einer bestimmten Zusammensetzung von Farben entsteht, hebt in diesen Bildern zusätzliche Bedeutungen hervor. Trotz der reichhaltigen Elemente und Farben, ihrer Schattierungen und Schattierungen der Schattierungen beruht Małgorzata Jastrzębskas Ordnungssystem auf der reduzierten Form und die damit verbundenen eigenen Emotionen werden strikt kontrolliert. Ich will nicht, dass meine Gefühle im Bild zu sehen sind, ich versuche eher, die Emotionen des Betrachters zu erwecken, ich möchte ihm etwas zusätzlich anbieten, nicht nur die ästhetische Freude
– sagt die Künstlerin. Dieses „Zusätzliche“ soll beim Betrachter eine Reflexion erwecken, die Fantasie und Gefühle reizt und zur weiteren Reise zu sich selbst ermuntert. Die am häufigsten verwendete zentrale Komposition und die mit ihr verbundenen zentrifugalen und zentripetalen Elemente lassen vermuten, dass die Künstlerin selbst ihre Aufmerksamkeit auf ihr Inneres lenkt, sie lässt „etwas“ zu sich, um es später abzulehnen. Bewegung ist in ihren Werken nur scheinbar und resultiert aus einer bestimmten Farbverwendung und dem Spiel mit den sich gegenseitig durchdringenden Elementen, sodass sie konkav und konvex erscheinen. Obwohl das Bildthema objektiv und die Ausführung geplant und methodisch ist, sind Emotionen spürbar. Frank Stella meinte einmal, ähnlich wie Jastrzębska, dass auf seinen Bildern nur das zu sehen ist, was sie tatsächlich zeigen
. Diese Äußerung klingt nicht glaubwürdig – das Gefühl ist wichtig, aber genauso wichtig ist die aus dem Gedanken resultierende Technik. Beide Dinge müssen vorhanden sein. Emotionen lassen sich nicht unter einer Definition verstecken.
Die meisten Werke von Małgorzata Jastrzębska wirken außergewöhnlich intensiv: dank der starken strukturellen Form der scharfen Konturen und Teilungen und der flachen Farbflecke. Dies betrifft auch kleinformatige Bilder (mit rosettenartiger Form). Diese Wirkung wird durch eine eindeutig zentrale Komposition verstärkt wie zum Beispiel im Bild Nr. 160 und im Bild Nr. 162. Die Bilder 147–150 wiederum wirken irritierend – hier wurden abgeleitete und Komplementärfarben zusammengesetzt, in verschiedener Intensität von Rosa und Rot oder von Blau, das mit Schwarz und Weiß harmoniert – wobei die Irritation durch die unterschiedliche Abstufung der Farbintensität und der Formausprägung gedämpft wird. Wie intensiv die Farbe wirkt, hängt nicht von ihrem Sättigungsgrad ab. Manchmal reizt eben das, was flüchtig ist. Das Unbenannte erlaubt dem Betrachter, das Bild „weiterzubauen“. Ein gutes Beispiel ist die fächerartige, zarte Form des schwindenden Rosa im Bild Nr. 169 und im Bild Nr. 170, das rätselhaft in den grauen Hintergrund des Bildes hineinschmilzt und durch seine Unbestimmtheit eine stumme Frage stellt. Deshalb ist die vorhandene, physische „Minderheit“ nicht weniger wichtig. Die ästhetisch raffinierten Bilder, gekennzeichnet durch lyrische Aussagen und monochromatische Malpoetik, bringen zum Nachdenken. Sie erwecken auch beim Betrachter Gefühle. Einige von Jastrzębskas Werken stehen auf der Grenze zwischen jeglichen Aufteilungen, indem sie Schärfe mit Sanftheit, Unruhe mit Ruhe und Dunkelheit mit Klarheit verbinden. Eines meiner Lieblingsbilder von Małgorzata ist das zur „Minderheit“ gehörende monochromatische Bild Nr. 135 – eine quadratische Leinwand, geteilt in neun durchdringende Kreise. Die Farbe baut das Bild sanft auf und siegt über die formelle Rauheit der Struktur. Ähnlich wie in einer musikalischen Komposition besänftigt die Palette gebrochener Tönungen von Rosa, Violett, Blau, Grün und Gelb die Strenge des Denkens mit der Zärtlichkeit des Gefühls.
Der französische Schriftsteller Anatole France meinte, dass das Talent nichts anderes als lange Geduld
sei. Małgorzata Jastrzębska ist geduldig: methodisch und systematisch, was die sorgfältig durchdachte Konstruktion ihrer Bilder beweist. Auch das Bild Nr. 130, das an die Erfahrungen der Op-Art, vor allem an Victor Vasarely erinnert, bestätigt diese Geduld. Die polnische Künstlerin knüpft an Shining an, ein Bild eines anderen Vertreters dieser Richtung, nämlich des Amerikaners Richard Anuszkiewicz, das im Jahre 1965 entstand, und verleiht ihm im Jahre 2007 eine andere Wertung. Anuszkiewicz erzeugte in seinem Bild einen optischen Reiz mit geraden Linien, die von strahlenförmigen Linien ablenken (oder umgekehrt). Bei Jastrzębska entsteht dieser Reiz, indem sie zufällige Farbflecke auf die Leinwand setzt und auf der rechten Seite des Bildes Schatten hinzufügt, die Vertiefungen ähneln und den Rhythmus der strahlenförmigen Linien brechen. Die Selbsttätigkeit des Werkes, die durch die überraschende formale Lösung unterbrochen wird, bekommt eine neue Dimension, wodurch die Dramaturgie der Aussage vertieft wird.
Die Gegensätze in Małgorzata Jastrzębskas Bildern wirken nicht gegeneinander, sondern komplementär: Tiefe und Höhle, Dunkelheit und Licht, Gewicht und Leichtigkeit, Schärfe und Sanftheit harmonieren. Dies entspricht der Hauptregel der klassischen chinesischen Philosophie, in der zwei gegensätzlichen Kräfte aufeinander wirken und sich ergänzen: Yin und Yang. Diese Relation ist auch in einem der letzten Bilder Małgorzatas, Black and White, zu spüren. Allerdings erwecken die kontemplative Ruhe und die auf zwei gegensätzliche und zugleich komplementäre Farben reduzierte Palette bei dem Betrachter Unruhe. Könnte man etwas in diesem Bild noch ändern? Ein Element oder eine Farbe entfernen oder ergänzen, um das durch seine Harmonie beunruhigend wirkende Gleichgewicht zu brechen? Wenn wir uns aber daran erinnern, dass die wechselseitige Wirkung von Yin und Yang Ursache aller Veränderungen ist, werden wir unsere Ruhe wiederbekommen. George Kubler meinte, dass eine neue Einschätzung aller Probleme in neuen Umständen möglich ist, manchmal sogar zeitgemäß
. Wenn wir dann dem ältesten Grundgedanken der chinesischen Philosophie folgen, der in allen Arten der Wissenschaft und der Kunst präsent ist, werden wir feststellen, dass man die schon immer existierenden Werte nicht pragmatisch oder epigonal nennen darf. Es sei denn, wir betrachten sie als „Post“-Yin-und-Yang.
Essen, 20.02.2008