Erfassung eines Moments
Erfassung eines Moments

Der Augenblick herrscht weit und breit in der Welt. Was auch immer geschieht, ist es gleichermaßen wichtig und interessant, umfassend und gleichzeitig, erhaltenswert.
Der feierliche Alltag wird mit einem deutlichen, breiten Strich markiert, er entkommt nicht dem Auge. Toaste, Figuren, Gespräche und Gelächter. Kokoryn hält das Bild auf der Leinwand fest, setzt aber das Auge in Bewegung. Grobgeschnittene Protagonisten beschäftigen sich nur mit dem Verbleiben im Moment. Im Tanz gebannt, erkennen sie keine Zeit an, obwohl sie ihrem Rhythmus erliegen.

Transatlantikliner
Darauf reisen ein Graf und ein Prinz, ein weltberühmter Schauspieler, luxuriöse Damen von zweifelhaftem Ruf, Menschen ohne Wurzeln, Schuhmachergesellen und einfache Bürger, die nach Erlebnissen (…)
Darauf reisen ein Graf und ein Prinz, ein weltberühmter Schauspieler, luxuriöse Damen von zweifelhaftem Ruf, Menschen ohne Wurzeln, Schuhmachergesellen und einfache Bürger, die nach Erlebnissen suchen. Es gibt viel Aufregung, da sie bemüht sind, die Langeweile zwischen Festländern zu vertreiben. Vielleicht im Tanz, der alle gleichmacht? Unter der Decke versteckt, sehen sie keine spitzen Wellenzähne und denken nicht über Eisberge.
Die Touristen wissen nicht, wo sie waren. Die Reisenden wissen nicht, wo sie sein werden.

Bretter 2
Für sie gibt es keine Welt, solange der Bandoneon spielt. Eingenommen, stützt sie auf ihn ihr helles Arm. Die Tänzer passen auf ihre Grenzen auf, sie bewahren den Rahmen der Konvention. Die (…)
Für sie gibt es keine Welt, solange der Bandoneon spielt. Eingenommen, stützt sie auf ihn ihr helles Arm. Die Tänzer passen auf ihre Grenzen auf, sie bewahren den Rahmen der Konvention. Die Leidenschaft im Zaum, die Eleganz den Anforderungen der Figuren untergestellt.
Ganz anders ihre Blicke. Neidisch, neugierig, spöttisch. Die Achse der Leinwand wird von dem Musiker bestimmt. Man weiß nicht, ob er sieht – sein Blick ist abwesend.
Unterschätze nicht die Gerüchte. Dank ihnen tanzt die Welt.

Piazzolla
Der Meister ist mit dem Instrument organisch zusammengewachsen. Er hat als Achtjähriger angefangen, in einem New Yorker Viertel, voller Gewalt und Schrei. Der von ihm aufgeführte Tango hat einen (…)
Der Meister ist mit dem Instrument organisch zusammengewachsen. Er hat als Achtjähriger angefangen, in einem New Yorker Viertel, voller Gewalt und Schrei. Der von ihm aufgeführte Tango hat einen markanten Rhythmus, manchmal durch Dissonanz verletzt. Astor Piazzola, wie ein Bogen gespannt, dem Blasebalg des Instrumentes gleich, spielt in einer zärtlichen Konzentration. Er taucht aus einer dichten synthetischen Schicht des Zinnobers auf. In einem Bild gefesselt, zittert er ein wenig.

Der rote Boden
Musik – die demokratischste aller Künste. Der Körper als Werkzeug und Bewegungsmittel, das größte Objekt der irdischen Begierde. Die Komposition des Bildes wird durch senkrechte Sinuskurven (…)
Musik – die demokratischste aller Künste. Der Körper als Werkzeug und Bewegungsmittel, das größte Objekt der irdischen Begierde. Die Komposition des Bildes wird durch senkrechte Sinuskurven weiblicher Körper bestimmt. Alle tanzen ruhig, gleichmäßig und harmonisch. Das symmetrische Muster der Tänzer wird von dem Maler in ein plastisches Zeichen der Befriedigung verarbeitet.
Es wird getanzt.
Es wird gelebt.

Adios nonino (Mumuki)
Die Kraft des Tangos kommt aus der inneren Spannung. Dieser Tanz ist ein Paradox: er verkörpert die Freiheit oder das Bedürfnis an Befreiung, obwohl er Tänzer an obligatorische Figuren und einen (…)
Die Kraft des Tangos kommt aus der inneren Spannung. Dieser Tanz ist ein Paradox:
er verkörpert die Freiheit oder das Bedürfnis an Befreiung, obwohl er Tänzer an obligatorische Figuren und einen anspruchsvollen Rhythmus bindet. Solange sie tanzen, dürfen sie diesem Rahmen nicht entkommen.
Geht es hier um körperlichen Trost oder um die Bändigung der Gleichgültigkeit der Welt?

Los vino
Kokoryn der Epikureer scheint ohne Musik auf der Leinwand nicht zu existieren. Die Affirmation des Augenblicks, der Zauber eines kleines Vergnügens und alles Sinnliche – das treibt seine Malerei (…)
Kokoryn der Epikureer scheint ohne Musik auf der Leinwand nicht zu existieren.
Die Affirmation des Augenblicks, der Zauber eines kleines Vergnügens und alles Sinnliche – das treibt seine Malerei auf.
Im Tanz konzentriert sich das, was unsere ständig hungrige Körperlichkeit ernährt.
In einem leidenschaftlichen Tango Con Corte y Quebrada erblüht sie unter seinem Blick in ihrer Schönheit und schließt die Augen. In der sehnsüchtigen Schlichtheit seines Blickes gebannt, verbleiben sie, unerreichbar für die Zeit.

‘ne Zigarette
So viel Haltung haben sie! Ihre Körper treffen sich genau an der Achse des Bildes, angespannt, in ihren Grenzen elegant und scheinbar nicht gierig. Sie setzen ihre Füße der Faktur des Bodens (…)
So viel Haltung haben sie! Ihre Körper treffen sich genau an der Achse des Bildes, angespannt, in ihren Grenzen elegant und scheinbar nicht gierig. Sie setzen ihre Füße der Faktur des Bodens entsprechend, in das Zimmer hineinkomponiert.
Er an dem Tanz Geschmack findend, suspendiert und verharrend.
Sie entweicht dem Blick, befindet sich jetzt in einem anderen Tanz. Nur die üppige Röte verrät sie.
In der Ecke – ein leerer Stuhl, der dritte Partner.
Zigaretten, nur sie verraten nicht.

Plaza Dorrego Bar (El Último Café)
In dem letzten Café fangen Einzelheiten an, das Blickfeld zu verlassen. Farben gehen samt dem Ton der Schatten fort. Auf dem Schachbrett der Tanzfläche hängt eine Erinnerung an den Rhythmus herum. (…)
In dem letzten Café fangen Einzelheiten an, das Blickfeld zu verlassen. Farben gehen samt dem Ton der Schatten fort. Auf dem Schachbrett der Tanzfläche hängt eine Erinnerung an den Rhythmus herum. Angehobene Beine der Stuhle warten auf den Tagesanbruch.
In dem letzten Café ist die Nacht unklar. Sie ist noch nicht zu Ende, und der Tag an den Markisen – schon etabliert.

Tango in der Straße
In der Nacht in der Mitte der Straße bewegt sich sogar die Luft nicht mehr. Vielleicht haben sie Tanz statt Streit gewählt. Alles ist vor Spannung erstarrt – das Auto und der Hydrant. Das Echo (…)
In der Nacht in der Mitte der Straße bewegt sich sogar die Luft nicht mehr. Vielleicht haben sie Tanz statt Streit gewählt. Alles ist vor Spannung erstarrt – das Auto und der Hydrant. Das Echo der Schritte wird von Wänden, Platten und Dachziegeln wiederholt. Das ist die letzte Figur, aber die Tänzer wollen nicht aufhören. Sie sieht ihn hochmütig an, zwischen Stampfen und Liebkosen. Auf keinem Fall wird sie ihn aus ihrer Umarmung befreien.
Das ist einer der Augenblicke, die man um das Verbleiben gebeten werden.
Ihr Zeuge ist nur der Mond.

Tom Waits
Eine Tarantella in Rauchwolken und in zu großen Stiefeln. Der Bühnenwischer tollt in einem Öltanz herum, mit Staub und Schatten bestreut. Ungebunden, braucht er kein Gerüst. Im Namen der (…)
Eine Tarantella in Rauchwolken und in zu großen Stiefeln. Der Bühnenwischer tollt in einem Öltanz herum, mit Staub und Schatten bestreut. Ungebunden, braucht er kein Gerüst. Im Namen der Kunsttreue trägt er seit Jahren denselben zerknitterten Hut.
Ob er sich verbeugt oder uns auf den Arm nimmt?
Als käme er aus einem Vaudeville, verzieht er seine Negerlippen. Als wäre er keine Verkörperung von Vision, Blues, Ballade und Gebrüll.
Er wollte immer in Liedern leben und nie zurückkehren.
Ein verspäteter Beatnik, je älter, desto jünger.

Rain dogs
Das Idyll der Alltäglichkeit. Kleine Glücke und Rituale. Alles auf seinem Platz und im höflichen Einklang. Vieles könnte hier geschehen: ein Kammerkonzert für ein Paar Ohren, neunzehn (…)
Das Idyll der Alltäglichkeit. Kleine Glücke und Rituale. Alles auf seinem Platz und im höflichen Einklang. Vieles könnte hier geschehen: ein Kammerkonzert für ein Paar Ohren, neunzehn beunruhigende Lieder, eine auf einem Blatt notierte Telefonnummer – zu benutzen, oder auch nicht.
Dank Kokoryns plastischer Vorstellungskraft kann alles zu einem Feier werden. Sogar ein Pilsner, dessen Bernsteinheit unerwarteterweise ein Weißwein-Glas beehrt hat.
Und vielleicht ist das alles schon gewesen? Eine Begrüßung mit einem Abschied – in einem Blick.
Eine Ölfotografie im Inneren.

Kokoryn & Pospieszalski
Ohne Musik gibt es keine Bilder von Kokoryn – auf ihnen ist sie allgegenwärtig. Das ist ein Doppelraum: er gehört sowohl der Natur, als auch der Kunst; der Welt und dem Menschen. Ein Maler und (…)
Ohne Musik gibt es keine Bilder von Kokoryn – auf ihnen ist sie allgegenwärtig. Das ist ein Doppelraum: er gehört sowohl der Natur, als auch der Kunst; der Welt und dem Menschen.
Ein Maler und ein Musiker – andere Werkstoffe, andere Persönlichkeiten, und die Musik vereint sie auf einer Leinwand.
Die Schlankheit des Jazz, das Bindemittel des Firnisses, die Kraft des Verbleibens in einem Moment.
Jede Kunst strebt immer danach, Musik zu werden.