Ich, das anderes ist

Ewa Toniak Von Ewa Toniak

„Im Westen ist ein Spiegel ein völlig narzisstischer Gegenstand. Der Mensch sieht in ihm ein Objekt, in dem man sich betrachten kann. Im Osten dagegen scheint der Spiegel leer zu sein. Er symbolisiert die Leere der Symbole. Der Spiegel fängt nur andere Spiegel und diese unendliche Widerspiegelung ist die Leere selbst (die, wie man weiß, Form ist)“.

Roland Barthes1

Fotos aus dem Atelier. Auf dem Boden liegen Bilder. Nachlässig gestapelt, an eine frisch grundierte Leinwand gelehnt oder auf die Kante eines zur Wand gerichteten Blendrahmens gestellt. Revers und Avers, Leere und Bedeutung. Fotografisches Aufnehmen im Atelier. Eine hastige Inventur enthüllt die Wiederholung der Motive: ein oder zwei galoppierende Pferde, meistens rote auf rotem Hintergrund. Pferde, die auf der Weide grasen, Pferde, die sich begatten… „Wenn wir von einem Foto einen Wert erwarten, sollen wir ihn in der Beziehung zwischen dem Fotografierenden und dem Objekt des Fotografierens suchen“, sagt uns Taro Amato2. „Das Betrachten beinhaltet auch das, was das Bewusstsein nicht registriert“. Zum Beispiel: rote Frauenschuhe. Ein Bildfragment mit einem schlafenden Modell.

Agnieszka Brzeżańska

Ein Foto, das eine junge Frau beim Zeichnen zeigt. Gemäß der traditionellen Darstellung eines Ateliers halten wir sie für die Künstlerin. Ihre zu Schlitzen verengten Augen beweisen, dass es sich unsererseits um eine illusorische und überflüssige Gewohnheit handelt. Auf einem anderen Foto eine andere Frau. Sie schaut zur gleißenden Sonne hin, kehrt uns den Rücken, sodass wir ihr Gesicht nicht sehen können. Es ist eher ein Porträt eines Bildes als einer Frau.

Täuschung. 1997 schrieb Brzeżańska in ihrem Tagebuch: „Meine Bekannten fangen an, alle meine Selbstporträts zu erkennen. Aber sie erkennen da sich selbst! Ich habe mich wieder selbst gemalt und wieder hat sich jemand, wie auf einem Foto, selbst in dem Bild gefunden“3. Es ist die Beschreibung einer Verzweifelten. Die Unmöglichkeit, die eigene Identität zu konstruieren. Statt Gesicht – Leere. Das Selbstporträt wird zum Porträt eines anderen. Das Individuelle, das nicht universell sein will. Androgyne? Nein. Es ist eher die Angst einer Frau, beschrieben von einem Mann, der eine Frau nachahmt. Ich, das anderes ist.

Agnieszka Brzeżańska

Ein Japaner, der eine Frau imitiert, gehört zu einer Kunst und Konvention, die seit Jahrhunderten etabliert ist. Diese Tradition nahm ihren Anfang vor etwa tausend Jahren. Damals schrieben Männer in weiblicher Erzählweise Tagebücher und Kurzgedichte. Sie stellten sich „weibliche Gefühle“ vor, um sich mit der „weiblichen Hand“ zu identifizieren. Damit glaubten sie, in der dekorativen Kano-Schrift schöner schreiben zu können, die gewöhnlich von Frauen benutzt wurde. In der Maltradition, die Bild mit Schrift verbindet, entsprach dem „weiblichen Denken“ die „weibliche Hand“. Neben ihr gab es die „männliche Hand“, die chinesische Zeichen aufschrieb und von Männern verwendet wurde. Notfalls konnten sie den weiblichen Stil nachempfinden, wie das Autoren auch getan haben.

Agnieszka Brzeżańska

In dem frühesten Selbstporträt, einer Bleistiftzeichnung, erkennen wir sie eindeutig – sie beugt sich auf der rechten Papierseite hinaus. Der Hals gefangen durch einen Rollkragenpullover, die Haare gebunden, die Stirn verhüllt. Der Blick auf das eigene Spiegelbild gerichtet. Die steife, aufrechte Haltung und zusammengepresste Lippen deuten auf Widerstand und Ablehnung hin. Agnieszka Brzeżańska sieht im Spiegel eine Frau. „Männer handeln“, schreibt John Berger4, „Frauen erscheinen. Männer betrachten Frauen. Frauen betrachten sich selbst, sie sind Objekt des Betrachtens“. Und weiter: „Der Betrachtende in einer Frau ist männlich. Das, was sie sieht – weiblich. Die Frau verwandelt sich selbst in ein Objekt, besonders in ein Objekt des Betrachtens. Zum Anblick“5.

Agnieszka Brzeżańska

Ihre frühen Akte – Linolschnitte – erinnern an Werke vom Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. Damals „funktionierten die gemalten Frauenkörper als Zeichen, die über männliche Sexualität und künstlerische Avantgarde entschieden“6. Lynda Nead beschreibt die Ansichten Carol Duncans: „Ein Zeichen für die kulturelle Unterwerfung der Frau ist die stilistische Verformung und formelle Abstraktion ihres Körpers durch die moderne Kunst. Frauen werden als hilfs- und kraftlose Wesen porträtiert, die erst durch die kreative Kraft und Potenz des männlichen Avantgardisten an Bedeutung gewinnen“7.

Die Frauengestalt aus dem Linolschnitt „Verträumte Rosa“ ergibt sich völlig unserem Blick. Die „Geduckte“ schließt ihren Körper vor uns. Sie wirkt entfernt, in ihren Träumen versunken. Die Frau aus „Follow your dreams“ versteckt die Augen mit ihrer Hand – sie grenzt sich von unserem Blick ab und vertieft sich in ihre Gedanken. Unserem Blick entfliehen auch die zerstückelten Gestalten aus den Inventar-Bildern: fremde Augen, Ohren, Hände („Sie“), Profile („Links und Rechts“), Mund („Die Zwei“, „Protection“). Unvollständig und abgetrennt missachten sie unser Verlangen nach Integrität.

„Wenn man durch die Straßen schlendert, sieht man, dass ein Fotoapparat, ein einfaches Wegwerfmodell zum Alltagsgegenstand wurde. Er ist ein permanentes Accessoire von Gymnasiastinnen. Sehr beliebt in Japan sind alle Arten von Fotoautomaten, wo die Mädchen sich Sofortbilder machen. Diese werden dann auf eine Aufkleberreihe gedruckt, die sich leicht teilen lässt“8.

Die Atelierfotos entstanden in Japan, wo Agnieszka zwischen 1997 und 2001 wohnte. Sie reiste dorthin, um ihre Zeit nicht mit Gewohnheiten zu verschwenden. Um nicht vor dem Spiegel zu stehen. In Japan entdeckte sie die Fotografie. Am meisten fotografiert sie sich selbst. Auf Fotos, die andere gemacht haben, scheint sie zu verschwinden. Sie ist ein Objekt doppelter Betrachtung – als Frau und als Ausländerin.

Der „Fremde“ kontrolliert den Bereich seiner Sichtbarkeit, indem er die Stellen auskratzt, wo er sein Gesicht erkennt. Die zerrissene Emaille fängt an zu leuchten. Einer ähnlichen Prozedur des „Auskratzens“ unterliegen in Japan Bilder mit Schamhaar und weiblichen Geschlechtsorganen, zum Beispiel in pornografischen Heften. Die fehlenden, also unsichtbaren Stellen sind Tabuzeichen.

Agnieszka Brzeżańska

Auf diese Art bearbeitet Brzeżańska auch Werbefotos. Indem sie um die Köpfe der Models leuchtende Aureolen verteilt (technisch gesehen jedoch nimmt sie weg – sie zerkratzt die Druckfarbe), deckt sie die Zweideutigkeit des Dargestellten auf, den sexuellen Charakter gemäß den ikonographischen Schemata der religiösen Darstellung („Jungfrau mit Lamm“, „Anbetung“). In ihren letzten Werken, zum Beispiel dem Modekatalog mit der neuesten Frühlingskollektion, entblößen die gezeichneten Aureolen eine Stilisierung der Bilder auf viktorianische Werke der Präraffaeliten und die durch die Massenkultur produzierten Muster der Weiblichkeit.

Die Entstehung der Selbstbildnisse auf Polaroid begleitet wahrscheinlich die Angst, das eigene Gesicht im Meer der Zeichen und die eigene Identität zu verlieren. In zufälligen, spontanen Aufnahmen probiert Brzeżańska unterschiedliche weibliche Identitäten aus. Sie wird verträumt, traurig, schläfrig. Sie deutet ihren Wunsch an, dass sowohl die Betrachtenden als auch die, die betrachtet werden, weiblich sind. Frauen und Künstlerinnen. Manchmal erblüht auf dem Foto eine Papierblume: Rose oder Narzisse. Blumensymbolik wird traditionell Frauen zugeschrieben. Blumen sind Vulva und Liebe der Frau, aber auch untätige Hingabe und Passivität. In den fotografischen Selbstporträts der Künstlerin sind sie das Äußere, das, was sich offenbart. Sie sind aber auch ein Vorhang, der vor unseren Blicken schützt.

Agnieszka Brzeżańska ließ sich von Filmszenen inspirieren, unter anderem aus Filmen von Wang Kar Wai. Ihre letzten Zeichnungen zeigen Sie und Ihn, vereint in liebender Umarmung. Auf einem Blatt daneben erblüht ein indisches Ornament (das gleiche, das sich Inderinnen auf die Hände malen und westeuropäische Mädchen als Abziehbilder übernommen haben). In der indischen Tradition symbolisiert die Blume Gottes Segen: Während Buddha sprach, fielen Blumen vom Himmel.

Das Pferd – Archetyp der männlichen Sexualität. Wenn eine Frau ein phallisches Symbol malt, wird es zu ihrer Signatur. Es wird zur Roten Stute, zur Mutterstute Saranyu, die in ihrer neuesten Arbeit Follow your dreams nicht nur metaphorisch, sondern auch wörtlich nach den Träumen greift und galoppierend von einem Kontinent zum anderen springt.


Anmerkungen

  • 1. Roland Barthes, „Das Reich der Zeichen“, Warschau 1999
  • 2. Taro Amato, „Fotografie“, in: „Gendai, Zeitgenössische Kunst aus Japan. Zwischen dem Körper und Raum“, Katalog zur Ausstellung, Warschau 2000, S. 120
  • 3. Tomasz Lipko, in: „Agnieszka Brzeżańska. Kratz meine Augen aus“, Katalog zur Ausstellung „Betrachtungsweisen“, Poznań 1997, S. 151. Alle Zitate der Künstlerin aus dem „Tagebuch“ sind dem Katalog entnommen.
  • 4. John Berger, „Kunst des Sehens“, Poznań 1997, S. 151
  • 5. Ibid.
  • 6. Lynda Nead, „Der weibliche Akt. Kunst, Obszönität, Sexualität“, Poznań 1998, S. 82
  • 7. Ibid.
  • 8. Taro Amato, S. 12


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