Apokryph

Jacek Dehnel Von Jacek Dehnel



I.
Dies sagt Quarm aus Gabe, auch El Ri genannt, Chronist am Hofe des überberühmten Prinzen Atti-Bus’Dinah.

Jolanta Wagner

Im vierten Jahr seiner Herrschaft, im 658 Jahr nach der Stadtgründung, rief der damals achtzehnjährige, überberühmte Prinz Atti-Bus’Dinah zu seinem Hofe den griechischen Architekten Eleukos aus Naxos. Er beauftragte ihn mit dem Ausbau des südlichen Flügels, von dem Greifenhof bis hin zu den Obstgärten von Hermithes. Darauf hin zerstörte man zwei Siedlungen, ein Moschee, eine Synagoge und das kleine Tempel der Mitra. Man ebnete den Hügel des Heiligen Jorges ein und errichtete dort eine wunderschöne Kolonnade gemeißelt aus dem Marmor der Insel Paros, vier Springbrunnen, zwei Höfe und ein Mausoleum der Prinzenbraut, die ein Jahr zuvor im Wochenbett starb.

Dem überberühmten Prinz war das nicht gut genug. Er ließ den Meister Ibrahim bin Mukapa als Helfer für Eleukos zum Hofe holen und verordnete den Ausbau des Palastes auf den Obstgärten von Hermithes und dann weiter, den Hügel hinunter bis hin zum Meeresufer. Dort, auf neuen Terrassen baute man weitere Kolonnaden, Ämter und Paläste. Zwischen ihnen lagen Höfe und Gärten mit zahlreichen kleinen Gartenlauben, liebevoll mit bemalten Kacheln gefliest, Orangenbäume, Pergolen mit Efeu und Käfige voller Paviane. Bevor die Bauarbeiten beendet wurden, ließ der Prinz das Wohnviertel der Armenier zerstören und an seiner Stelle ein Lagergebiet des Palastes herrichten: Die Bevölkerung wurde vertrieben, die Straßen zugemauert, die Häuser wurden zu Speichern. Um die Armenier irgendwo unterbringen zu können, ließ der Prinz das Tatarenviertel, Beh, in eine Hochstadt umbauen, mit großzügigen Bauten, die durch zahlreichen Holzvorhöfen und Gängen miteinander verbunden wurden. Im neuen Beh war genug Platz für die Armenier, Tataren und auch für die Makedonen, denn in ihrem Wohnviertel baute man einen Marktplatz, ein Forum, sowie Badehäuser des Prinzen und Ställe. Und so breitete sich das Palast dort aus, wo früher die Stadt war und die Stadt dort, wo die Vororte waren, und so weiter, immer weiter.

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Am Anfang inspizierte der überberühmte Prinz Atti-Bus’Dinah jedes errichtete Gebäude, danach nur jedes neu eröffnete Viertel. Als die Reise durch die engen Gassen zu den neuen Gebäuden eine, später zwei Wochen und schließlich ein Monat dauerte, verzichtete er auf persönliche Inspektionen. Stattdessen betrachtete er die Zeichnungen, Pläne, Karten, die man in der Großen Bibliothek sammelte. Diese befand sich in dem ehemaligen Bah Siedlung. Die Armenier, Tataren und Makedonen, die dort früher lebten, wurden nach Norden, in die Nähe des Orhan-Gebirges umgesiedelt. Zahlreiche Architekten, Zimmerer und Steinhauer erreichten auch diese fernen Gebiete. Sobald ein Palast, ein Turm, eine Straßenfront oder einfach ein Markt fertig erbaut wurde, malten die Künstler des Prinzen sofort eine Vedute und schickten sie mit einem Boten ins Palast, der ihnen immer unwirklicher schien. Der Bote eilte durch zahlreiche, oft menschenleere Viertel, vorbei an leeren Foren und unvollendeten Festungen. Er floh vor herumstreunenden Hunden, die Thermen bewohnten oder vor Hornissen, die ihre Nester in den Mauern bauten. Die äußersten Palastgrenzen erreichte er anfangs nach einem Quartal, später nach einem Jahr. Bis zu dem Thronsaal oder der Großen Bibliothek, wo man den Prinzen am wahrscheinlichsten treffen könnte, dauerte es zweimal so lange. Als der Bote wiederkam, lag der Limes weiter als vorher. Die Nomaden, die zur Besiedelung der neuen Häuser gezwungen wurden sprachen ein fremder, gutturaler Dialekt, ganz anders als die Sprache im unmittelbaren Umkreis des Palastes. Die früheren Architekten und Zeichner lebten nicht mehr. Ihre Söhne empfingen den Gast, reichten ihm neue Bilder und Skizzen und schickten ihn nach einem Ruhetag zu dem immer älter werdenden Prinzen.

II.
Dies sagt Atti-Bus’Dinah, der Prinz.

Jolanta Wagner

Gott gab mir ein langes Leben und viel Zeit, um die Stadt zu errichten. Während meiner Herrschaft breitete sie sich von der Küste des Porphyreum bis zu den Orhan Bergen, von der Wüste der Mikrokephalen bis zu den Ufern des Gehr Flusses. Anfangs baute ich, damit die Stadt schöner und das Palast großzügiger und imposanter wird. Die Gärten sollten dem Paradies ähneln, die Tempel eine Verehrung für die Götter des Ostens und Westens darstellen. Später wollte ich, dass die Leute glücklicher werden: Ich ließ Krankenhäuser bauen, Aquädukten mit kristallklarem Bergwasser, Kanalisation, öffentliche Parks und Gärten. Für die Mönche errichtete ich großräumige Klöster, für die Frivolen ergonomisch geplante Lust-Viertel. Schließlich las ich in den Briefen des Heiligen Jorges eine Geschichte über einen Menschen, der sein ganzes Leben lang ein überdimensionales Bild zeichnete. Es zeigte die Welt: Länder, Gewässer, Städte, Tiere, Berge, Wälder, Wüsten – alles bezaubernd schön und präzise. Als er nach vielen Jahren, als alter Mann das Ganze betrachtete, erkannte er in den unzähligen Linien und Flecken sein zerknittertes Eigenbild.

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Als ich spürte, dass meine Tage dem Ende nähern, beschloss ich bis hin zu den äußersten Stadtgebieten zu reisen, um zum ersten und zum letzten Mal die imposante Größe meines Lebenswerkes zu betrachten. Anfangs fuhren wir durch reiche Viertel und wurden begrüßt von Posamentern, Färbern, Händlern, Tuchwalkern und Büttnern. Vor den Hufen unserer Pferde warfen sie Blumen und gossen duftende Öle. Je weiter wir fuhren, desto misstrauischer wurden wir angesehen. An dem Nodoso Bach wurden wir von ein Paar Kindern mit Steinen beworfen. Als ich eines Tages kurz vor der Dämmerung aufwachte sah ich einen Pfeil in meinem Kissen. Er durchbohrte die Wand des Zeltes und drang in die Mitte der mit einem goldenen Faden gestickten Sonne. Bei Beled verletzten nubische Räuber einen meiner Generäle. Hinter Beled war es noch schlimmer: Niemand verstand unsere Sprache, obwohl wir immer noch durch die Gassen derselben Metropole schlenderten. Sogar die höchsten Gipfel der Orhan Berge waren immer noch kaum zu sehen, obwohl ich vorhatte, aus deren Perspektive die Stadt zu erblicken.

Jolanta Wagner

Mein Herz versagte und somit schien meine Reise in der Kirig Siedlung, bewohnt von den Hundeköpfigen, zu enden. Man legte mich in dem Paradezelt nieder, zapfte mir Blut ab und kochte Kräuter. Langsam begriff ich, dass ich die Stadt nie aus einer entsprechenden Perspektive betrachten werde. Nie werde ich meine eigenen Gesichtszüge in den Linien dieses gigantischen Baus wieder finden.

Und dann schenkte mir der Teufel eine Begegnung mit zwei arabischen Wandergelehrten, die gerade auf der Reise zu dem Prinzen von Dhera waren. Sie hörten von den Höflingen von meinem ursprünglichen Reisezweck und versprachen mir, die Möglichkeit die Stadt zu betrachten, zu verkaufen. Der von ihnen verlangte Preis war nicht allzu hoch - im Anblick des Todes scheint aber alles andere plötzlich an Wert zu verlieren. Aus den Reisesäcken holten sie eine enorme Blase aus zypagonischer Seide, streckten sie auf dem kleinen Platz und banden sie eng mit mehreren Schleifen an die Beine meines Bettes. Danach ließen sie ein großes Feuer anzünden, damit die erwärmte Luft die Blase auffüllt und mich hoch hebt. Und tatsächlich: nach einem Augenblick spürte ich, wie das Bett zittert und dann fing ich an hoch zu steigen: Zuerst auf die Höhe einer Hand, dann eines Ellenbogens. Ich sah die Gesichter der Höflinge, dann ihre Kopfspitzen, die leeren Fenster des ersten Stockwerkes, dann die des zweiten und die zerstörten Dachböden, schließlich die Dachreste, immer mehr und mehr, Gänge, Fluchten, kleine Zimmer, aneinander geklebt wie ein Honigpflaster, eine ganze See von Mauern, Straßen und Wegen.

Ich schwebte immer höher und höher und sah fast alle Viertel, doch das war mir zu wenig: Schließlich hob mich die Luftböe so hoch, dass ich die ganze Stadt sehen konnte, von dem Meer bis zu den Bergen, von der Wüste bis zu dem Gehr Fluss. Das Stadtbild nahm aber keine Form an, es war ein Gewirr von unförmigen Linien. Ein endloses Mosaik, das keine Bedeutung, keinen Sinn, keine Ursache und keinen Zweck hatte.

Ich flog an der ersten Wolkenschicht vorbei. Es wurde immer kühler.

III.
Dies sagt der Archäologe, Professor Albrecht Rosendorfer.

Jolanta Wagner

Zuerst dachten wir, der Stützpunkt 3502-F sei der Überrest der römischen Kolonie namens Tuginium. Nach Aecius aus Milan lag sie irgendwo in dieser Nähe. Wir entdeckten aber die Stadt Buz, die Hauptstadt des parsomonidischen Fürstentums, das seine Blütezeit während der Herrschaft des Atti-Bus’Dinah erlebte. Aus unbekannten Gründen geriet die Stadt nach seinem Tode in völlige Ruine.

Das Stadtzentrum blieb am besten erhalten: die deutsche und britische Teams entdeckten die Überreste eines großen Palastes, einer Bibliothek, ein Paar Tempel, Thermen und Foren. Darunter befanden sich zahlreiche Denkmäler: Mosaiken, Bronzen und ein Paar spätrömische Skulpturen. Weiterhin entdeckten wir Wohnviertel aus gebranntem Ziegel. Einige verfügten über ein Kanalisationssystem und Landstraßen. Je ferner wir aber vom Zentrum wanderten, desto größer war unser Erstaunen: Die Stadt war eigentlich völlig chaotisch. Je weiter von den Palastmauern, desto schlechter die Baumaterialien. Der Wüstensand konservierte die Steine, Ziegel, das Holz und den Papyrus. Am Hang des Orhan Gebirges entdeckten wir ganze Viertel, die aus Gras geflochten wurden. Sie bestehen aus Wandschirmen und bemalten Leinwänden. Es sind endlose Fluchten aus kleinen Räumen, die zu den Höfen laufen, von denen aus wiederum breite Wege führen, deren Straßenfronten aus Honigpflaster, Holzbrettchen und Sand gebaut sind. Diese Straßen laufen auf einem großen Platz zusammen, der wiederum aus Seidengespinst so eng geflochten wurde, dass er bis heute seine ursprüngliche Form erhalten hat, konserviert durch die glühende Wüstenluft.

Man weiß nicht, weshalb die Geisterstadt erbaut wurde. Ein englisches Käseblatt vermutet, es handle sich nicht um die Ruinen von Buz, sondern um die Reste einer Bühnendekoration, etwa aus Griffiths „Intoleranz“ oder aus „Ben Hur“. Es findet aber dennoch keine Erklärung dafür, weshalb sich diese Überreste ausgerechnet auf diesem Gebiet befinden oder warum die Bühnenbildner die Pläne aus Spinnennetz und Sand konstruierten. Ein wichtiger Hinweis würden die Dokumente aus der Palastbibliothek des Atti-Bus’Dinah liefern. Leider, im Gegensatz zu den leichten Hauswänden der Berghäuser, zerfallen sie in den Händen, sobald man sie aus dem Sand ausgräbt. Es bleibt nur noch ein Häufchen rötliches Staub und ein trauriger, beißender Geruch.



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