Liebeslied

Marek Bieńczyk Von Marek Bieńczyk



Jacek Łydżba

Foto: Ewa Pfanhauser

Ausgangspunkt für die vorgestellten Arbeiten auf Papier war Altpapier, Makulatur. Aber welch schönes Altpapier!

Im Jahre 2017 stieß Jacek Łydżba in einem Antiquariat auf einen Stapel alter Opernprogramme und Notenhefte. Vergilbt, zerklüftet, vom Zahn der Zeit angefressen, optisch umwerfend und zusätzlich eine Aufzeichnung der Geschichte.

Der von der Schönheit dieser Drucke gefesselte Künstler, benutzte diese als seine malerische Unterlage, versah sie nach seiner Façon mit Tempera- und Aquarellfarben.

Das Alte ist ebenso wichtig und gleichwertig wie das Neue.


Jacek Łydżba

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Ich wollte aus dem Gemälde entschwinden, vom Rahmen springen, Reißaus nehmen aus dem Museum. Ich wollte ihnen diese andere Ouvertüre vorspielen. Aber es gibt hier keine Öffnung, also verharre ich unbeweglich im Käfig, gefesselt im Flug wie ein Insekt im Bernstein, die Flügel in Formaldehyd konserviert. Ich habe keinen Augenblick für mich selbst, aber anstatt dessen habe ich die Ewigkeit. Ach Chagall, mein Chagall!


Jacek Łydżba

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Ich hätte gerne Flügel, hundert, zweihundert, tausendfach würde ich ihr Geraschel wiedergeben. Auf der Klarinette, auf dem Pianola, auf der Viola da Gamba. Aber mir steht nur der Hintergrund als Instrument zur Verfügung, der grelle Himmel für den Engel in mir.


Jacek Łydżba

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- Auf welch wunderliche Weise, oh Jungfrau, hast du mit dem Boot über das Schwarze Meer eine Tonne Mehl verbracht und hiervon hunderttausende von Hörnchen gebacken? Auf welch wunderliche Weise hast du die Wüstenei mit einem reißenden Fluss durchschnitten? Wie hast du es fertig gebracht, aus Sand eine Pyramide aufzuschütten? Und wie hast du dich von ihrem Gipfel in das endlose Firmament geschwungen? Wie hast du es angestellt, dass die Steinchen sich in Sämereien verwandelten, um das ganze Erdenvolk zu ernähren?

- Nun siehst du, oh Herr, weil ich eben ein Geschöpf der Oper bin.


Jacek Łydżba

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Tagsüber hat sie Gedichte geschrieben, abends sang sie in der Operette. Sie bekam einen Preis für die beste Stimme und die beste Interpretation der Arie der Madame Phidias, aber keine für ein Gedicht, trotz so vieler Konkurse. Also sang sie eines Abends eines ihrer Gedichte im Stile des Acht-Zeilers während der Vorstellung. Sie hatte die Hoffnung, dass sie einen Skandal auslösen würde, aber keiner hatte sich orientiert und die Handlung wurde ungestört fortgesetzt, als sei nichts gewesen.

Am folgenden Abend sang sie anstatt eines Fragments des Librettos ein Gedicht von Baudelaire. Auch dies hatte niemand bemerkt. Die Operette lebt noch immer, aber was ist mit der Poesie?


Jacek Łydżba

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Meine Großmutter verließ ihr Elternhaus, um nach Herzenslust zu musizieren. Sie hatte einen Verlobten, doch der wollte aus ihr eine Küchenmamsell machen. Doch sie war schließlich ausgebildete Musikerin. Ich habe ein paar ihrer Gene abgekriegt. Schwarze Haare, mittelmäßiges Talent und den Charakter einer Nomadin. Sie hat sich auf der Welt herumgetrieben, hier und da klassische Musik auf dem Violoncello gespielt. In Paris lernte sie Django Reinhardt kennen; das war bereits nachdem sie das Krankenhaus verlassen hatte und trotz zwei unbeweglicher Finger eine neue Art des Gitarrenspiels entwickelte; eine kurze Zeit lang traten sie gemeinsam auf. Ich weiß nicht, ob Großmutter wusste, dass Django im Romani der Manouche-Zigeuner „ich wecke auf“ bedeutet. Ich denke mir, dass Django sie zu einer anderen Musik aufgeweckt hat. Schluss mit Franck, Gabriel Fauré und Debussy, wir spielen lieber Jazz, synkopisch und für normale Menschen, Gitarre, Akkordeon, Klarinette, das alles hat Großmutter durchlaufen. Möglicherweise hat sie auch gelernt, die Beine zu schmeißen. Und Flamenco zu tanzen. Ich erinnere mich aus meiner Kindheit, dass sie noch kurz vor ihrem Tode das Saxophon-Spielen begann. „Abgefahren!“ sagte sie und zwinkerte mir zu. Wenn ich am Jahrestag ihres Geburtstags ihr Grab besuche, spiele ich auch manchmal für sie. Coltrane und diese Sachen. Die vom Saxophon reflektierten Sonnenstrahlen fallen auf ihr Grab, und dann geht bei uns beiden die Post ab.


Jacek Łydżba

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Am schwierigsten ist es hierbei, sich vor dem Publikum zu verneigen. Am Klavier ist der Körper frei und kann sich geben, wie er will; schwingt auf, wiegt sich und biegt sich im Einklang mit den gespielten Rhythmen, ist gleichzeitig Kobra und Flöte des Schlangenbeschwörers. Und später? Er war frei, jetzt ist er gefesselt, an die Leine genommen, unbeholfen. Etwa einen Knicks machen wie ein kleines Mädchen, schüchtern und unschuldig, das mit den Fingerspitzen leicht die Falten ihres Kleidchens liftet. Wie Marilyn Monroe beim Song für Mister President, sich in perlendes Lächeln ergießend und mit beiden Armen den gesamten Saal umschließend? Jede Pose ist unbeholfen, die Verbeugung ist immer tollpatschig, allein die Musik ist stets genau das Richtige.


Jacek Łydżba

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Ich brachte ihr rote Rosen, sie bevorzugte schwarze künstliche. Ich brachte ihr Schubert, sie jedoch wollte Arvo Pärt. Ich bereitete ihr klassische Tournedos à la Rossini zu, „aber mein lieber Kendall, Fleisch mag ich doch nur sous vide gegart“, entgegnete sie mir. Ich forderte sie zum Tango auf; sie aber pustete mir in die Nase: „Na weißt du, nur Ragga reißt mich aus dem Sessel. Eventuell Twerk oder Shuffle, ganz zu schweigen von Tik-Tok Dance“. Ich habe ihr einen Antrag gemacht, doch sie gab Ildefons, dem eloquenten Goldmund ihr Ja-Wort.


Jacek Łydżba

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Nicht allein ich weine, die ganze Welt ergießt sich in Tränen und zerfließt.
Es muss alles von vorne begonnen werden, um noch einmal im Allegro-Tempo aufzuleben.
Mach deine verheulten Wimpern frisch, stille die Blutung, leg neue Schminke auf.


Jacek Łydżba

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Die einen sagen, dass die Musik das Schluchzen des Todes sei. Andere wieder meinen, dass Gott jene Gabe sei, dem Bach, von allen anderen, das meiste zu verdanken hätte. Aber vielleicht ist die Musik einfach Gottes Beweinen unseres Schicksals, und diese Frau, die Schwester von Vermeer, der Trog für diese Tränen.


Jacek Łydżba

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Ja, auch ich habe gesungen, auch ich habe geliebt und wurde geliebt, auch ich habe gelitten und hatte Hoffnung. Soll ich weiter erzählen?


Jacek Łydżba

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Also stehe ich vor euch und spreche. Möget ihr die ganze Wahrheit hören. Die ganze Wahrheit über mich, über la, si, do. Lasido ist der Name des Mädchens aus dem paradiesischen Land A-Dur. Lasido träumt von der Durchsichtigkeit der Herzen, von Körpern leichter als Federn, von Spaziergängen auf dem Wasser und von Gerichten aus blauen Edelsteinchen. Helft ihr.


Jacek Łydżba

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Sie war eine wunderhübsche Cellistin, ganz klar, jedoch hatte mich nicht ihre Schönheit am meisten verführt. Eine schwüle Nacht trat an, die Luft umhüllte uns wie ein apathischer behäbiger Kater. Die letzten Geräusche verklangen, sie trat in ihrem berühmten weißen Kleid auf den Gang hinaus. Und dann kam es zu jener Geste. Sie hielt inne, sog die Hitze in sich auf, spreizte leicht ihre Hände, als wolle sie sich genussvoll über das Wasser erheben – glückliche Ophelia – und drehte plötzlich ihr Haupt. Als ob etwas von der Seite her ihren Blick anzog. Ich habe niemals erkennen können, was das war; nichts und niemand war dort außer der Nacht selbst. Und mir schien es, dass sich vor ihr ein unsichtbares Tor öffnete, von deren Existenz allein sie wusste und welches sie letztlich durchschreiten würde. Wir übten jeden Abend, aber niemals hatte ich die Gewissheit, ob sie am nächsten Tag wieder erscheinen würde oder ob sie nicht doch am Klavier mit der eigenen, einsamen Musik zurückbleiben würde.


Jacek Łydżba

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In grünen Wäldern – wiegen sich weiße Kornfelder
In langsam abebbendem Tanz*

In Sternennächten – tanzen in weiße Tücher gehüllte Damen
Einsam um die Altane

Am goldenen Rhein malt eine blonde Magd
Felsen gar wie Gesichter

Beim dunklen Fluss holt eine weiße Gestalt
Die Seelen zu sich, doch lieber noch die Körper

In dieser Nacht ruft uns zärtlich das satte Weiß der Braut:
Einmal ich, ein anderes Mal du.

* Krzysztof Kamil Baczyński, „Sur le pont d‘Avignon”, 1941


Jacek Łydżba

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Zwei Lieder, zwei Möglichkeiten:

Heh ho, heh ho,
Aufs Feld, sonst nirgendwo,
Heh ho, heh ho,
dort feste dreschen Stroh!

Oder aber:

Heh ho, heh ho,
Zum Ball, sonst nirgendwo,
Heh ho, heh ho,
Kaviar, Sekt und Tango…

Aber es gibt noch eine dritte Möglichkeit. Nirgendwo hingehen; diese kluge Frau weiß genau, dass sie ihr eigenes Leben fest im Griff hat. Sie kann in verschiedene Rollen schlüpfen, aber sie wacht stets über sich wie eine Mutter über ihre Tochter.


Jacek Łydżba

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Nimm meine Stimme und geleite sie weit von hier und singe, oh Täubchen, dem Himmel, den Menschen, den Bergen, den Ozeanen: „Auf dem Dornbusch erblühten Rosen“, „Im Tale beim See rauscht der Hain“, „Der Wind wehte in einer Wolke von der Erde“. Und vor allem „Schließlich ist mein Blut kein Eis“.


Jacek Łydżba

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„You know, man“, alles ist immer anders, als die Leute sagen. Ja, ich habe im Film „Atemlos“ mitgespielt, aber Belmondo hat keine Gitanes geraucht, sondern nur Menthol-Zigaretten, so dass er nicht husten musste. Ja, Romain Gary war mein zweiter Ehemann, denn mein erste hatte die Hoffnung, einen Typen zu ehelichen. Ja, ich war eine Zeitlang mit Clint Eastwood zusammen, aber ich kann dir sagen, dass er schlecht geschossen hat. Und Carlos Fuentes hat nicht mich selbst, sondern lediglich Inspiration begehrt. Ich habe keines seiner Bücher gelesen. Ja, das FBI hat mit mir sein Spiel getrieben, aber nur für die Presse; wir hatten eine gewisse Vereinbarung, you know. Sie fragen mich hier, im Reich des reinen Lichtes, wie ich heiße. Mein Name ist Jean. Und der Nachnamen? Mein Nachname ist auf der Erde zurückgeblieben.


Jacek Łydżba

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Könnte ich etwa die Ikone der Melancholie sein? Denn ich habe entsprechend traurige Augen und ein nachdenkliches Gesicht, welches den Blick in seine eigene Leere und in die Leere der Welt geheftet hat? Und weil meine Hand das Kinn berührt und es leicht stützt? Da muss ich euch berichten, dass meine Melancholie die Cholia Mela ist (auf seine ganz eigene Weise ist Cholia ein schöner Vorname und gerne würde ich ihn annehmen), alles bei ihr ist umgekehrt, ein Mischmasch und Kuddelmuddel, ein wahres Potpourri. Sport, Tänze, Ausflüge, immer auf Achse und mehr Lachen als Tränen. Aber auch an denen fehlt es nicht. Schließlich ist es besser als ihr denkt: das ist übrigens gar nicht meine Hand.


Jacek Łydżba

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„Bei ihm verweilt die junge Braut über das Buch des Lebens gebeugt
Wie eine ängstliche Taube, in der Helle des Torbogens
Hauchte sie den Geist des Glaubens ein; und mit zitternden Flügeln
suchte sie ihr Nest weitab von der Welt“.


Jacek Łydżba

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Sie sieht vor ihren Augen die eigene Seele, aber hört sie sie auch? Jenes Boot, das um die Insel kreist, jene Tische auf dem hölzernen Podest am Strand, die zwei Gläser gefüllt mit einer Zitronenflüssigkeit sind taube Scherenschnitte, Papiergebilde ohne jeden Wert. Denn wo ist hier des Wassers Geplätscher, der Gläser Geklirre, wo ist die Stimme des Kellners? Kein lebendiger Kontakt mit Ihnen, wir tragen in uns ein Museum von Fotografien. Oder von Wachsfiguren. Die Erinnerungen, sogar die von Capri, sind stocktaub; wie Papier, Pergament oder Wachs. Etwa wie die ein wenig wurmstichig anmutenden, aus dem Wasser gezogenen Leichen. Die Musik hingegen ist hier immer zugegen. Dieselbe wie damals die Serenade … Nur durch sie stehen wir in Kontakt mit dem, was wir einmal waren. Die Musik verletzt wunderhübsch, wie etwa die Hufnägel die Hände des Herrn Jesus Christ. Sie sind deshalb gleichzeitig die Auferstehung.


Jacek Łydżba

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Auf der letzten Modenschau der Firma Gypsy Woman wurde unter Flamenco-Klängen die Herbstkollektion vorgestellt. Wie immer überraschte die Präsentation dieses Modeschöpfers das zahlreich erschienene Publikum. Über den Köpfen desselben flogen Papageie und Krähen, und gegen Ende der unvergesslichen Show ergoss sich von der Decke ein anhaltender Parfüm-Regen.

Die meiste Aufmerksamkeit zog jedoch jenes Model auf sich, das solche Posen darstellte wie die Nachdenklichkeit, den Missmut, den Überdruss, die Beunruhigung, die Unbekümmertheit und sogar den Ekel. All die verkörperten Zustände kleideten ihr Gesicht ungemein vorteilhaft. Mehr auf www.gypsywoman.org


Jacek Łydżba

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Das Wiegen der Wiege, das Wiegen der Hüften, Zeit zum Erwachen, kleine Prinzessin, und Zeit für den ersten Ball. Zeit, um mit dem ersten Schein der Morgenröte deinen Leib zu schmücken, den Tanzschuh zu verlieren und um weit von hier zu entschwinden.


Jacek Łydżba

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So wird der letzte Take aussehen. Magda wendet den Kopf zur Seite, noch einmal sehen wir ihr Gesicht. Stille. Close up mit der Kamera, leichte Annäherung. Ihre Augen richtet sie in unsere Richtung. Zum Abschied. Jetzt drückt ihr Gesicht all das aus, was wir über Magda aus dem Film erfahren haben. Ihren Willen zum Durchhalten und ihre Entschlossenheit in den schwierigsten Lebenslagen. Ihren Appetit auf das Leben in vollen Zügen. Ihre verborgene Schalkhaftigkeit und ihr Gefühl für Humor, mit dem sie jede Art von Gesellschaft zu unterhalten verstand. Ihr Gefühl für Takt und Rhythmus in jeder Situation, dieser besonderer Flow, wenn sie ging, sprach oder tanzte. Ihre Bereitschaft zur Fortsetzung, zur Zukunft, zu welcher wir Zuschauer bereits keinen Zutritt mehr haben. Aber auch den Schatten des Bedauerns, dass alles anders kommen könnte; dass diese ganze Geschichte mit Alex ein anderes Finale haben könnte. Noch ein Close up mit der Kamera, das Gesicht von Magda verschwimmt langsam im Weiß, bis es schließlich völlig verschwindet. Musik. (Lyrisch, aber nicht sentimental; nachdenklich und bedingungslos, etwa im Stil von Ennio Morricones Musik zum Film „Spiel mir das Lied vom Tod“).


Jacek Łydżba

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Ich entsinne mich nicht, wie ich mit dir Walzer getanzt habe,
ich entsinne mich nicht, wie wir auf der Donau nach Wien gefahren sind,
ich entsinne mich nicht, wie wir auf dem Karussell im Prater unsere Runden gedreht haben,
ich entsinne mich nicht, wie wir zu Abendbrot im Schnitzel Paradiso gegessen haben.

Ich erinnere mich an die Schnecke auf der kleinen Allee; ein kleines Denkmal aus Plasma,
Ich erinnere mich an den Geruch im Museum; ein Gemisch aus Äther, Staub und Stille,
Ich erinnere mich an den Pullover der Straßensängerin; zehn Farben wie die zehn Gebote,
Ich erinnere mich an das Gesicht des Mädchens mit den Bonbons; ihr Blick auf mich aus der Tiefe der Zukunft.


Jacek Łydżba

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Aufgekratzt, über die Worte des Verses gebeugt
Entzückt und erschüttert von dieser Satzmelodie
Aufgeweckt und unruhig seit dem Morgengrauen
gelangweilt und müde von den ewigen Handy-Memen

Voller Leidenschaft und hungrig nach dem Schönen
Voller Sehnsucht, ja Verlangen nach dem Ausdruck ihrer eigenen Tage
Unanständig, enthemmt, ohne jeden Zwang!
Gerührt und getrieben von der Frage nach dem „Weshalb“?

Verändert, von einem unheilvollen Sonett in Trance gelullt
Gelangweilt und müde vom Internet und vom Universum
Erneuert und mit blutroten Fäden vernäht

Aufgerüttelt und schlaflos, den Meereswind spürend
Unwillig und gleichgültig gegenüber seiner Stimme vom Bett
Aufgekratzt, über die Worte des Verses gebeugt


Jacek Łydżba

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Auf dem blauen Meer
Wippt Dein Nachen,
Gleich dem grellen Rot Deiner geschürzten Lippen
Wogt er auf und ab, treibt vor sich hin


Jacek Łydżba

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Ich bin nicht die Immaculata, ich bin die Immodulata, jene, die andauernd einen und denselben Ton vernimmt. Ihr wollt mir nicht glauben, aber so wird ebenfalls die Heiligkeit geboren.


Jacek Łydżba

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Was enthält das Selfie?

Ungeschminkte Lippen, frei von Kummer
Die ersten drei Takte des Tangos
Die Röte überflüssiger Gefühle
Einen Narren-Kranz zur Belohnung oder zur Strafe
Eine kleine Prise an Wahrheit, die bisher unterdrückt blieb
Ein Blick, der all dem standhält


Jacek Łydżba

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Es wird die Fahndung nach Rachel Eisenstein aus Odessa ausgeschrieben, die Tochter des Kaufmanns Isaak und der Wäscherin Sarah. Sie ist mittelgroß, hat ein längliches Gesicht, helle Augen, eine kleine Nase, brünettes Haar, ohne besonderen körperlichen Merkmale. Die Gesuchte wird verdächtigt, einen Kinderwagen samt mit dem in ihm schlafenden Säugling entführt zu haben. Die Gesuchte betört Männer, ist zu allem entschlossen und ist in der Lage, mit Blicken zu töten, mit dem Stillet, mit der bloßen Hand. Sie gibt sich als eine von einem Ölmagnaten verlassene moldauische Prinzessin aus. Sie hat eine schöne Stimme, mit der sie Vögel anlockt. Die zur Fahndung ausgeschriebene Person ist aufzuspüren, nach Entdeckung festzuhalten und dem nächstgelegenen k.u.k. Kreisamt zuzuführen.


Jacek Łydżba

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Ach, wie gerne würde ich vergessen, vermag es aber nicht. Das Profil der Königin, in einem zweirädrigen Einspänner auf den Place de la Révolution verbracht, wo bereits die Guillotine auf sie wartet, die Schwarze Witwe. Diese wenigen Linien ihres Gesichts, welche David, in der Menge anwesend, geschwind, in schwarzer Eingebung skizzierte. Und jetzt weiß ich schließlich, dass in jedem Gesicht einer Frau das Profil der zum Richtplatz geleiteten Marie Antoniette lauert. (Jawohl, es ist die Musik, das Leben, das Reisen. Diesen Anblick muss man in sich selbst malen. Aber ein jedes Mal gestalte ich dieses Bild in Blutrot).


Jacek Łydżba

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- Na und was meinst du zu ihr, Kamerad?

- Sie ist „the bride side of the moon“. Die Muse von T. Rex und nicht von Pink Floyd. Ein Kind der Revolution und nicht die Tochter der Dunkelheit. Sie erhellt die kosmische Nacht, aber verspricht hierbei nichts. Sie lacht wie ein menschliches Wesen, entschwindet wie eine Göttin. Oder aber wie ein gutmütiger Alien.

- Mein Gott, wer ist denn dieses Mädchen? Wessen Inkarnation?

- Befrage das Orakel von Delphi. Ich weiß es nicht.


Jacek Łydżba

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Ich befinde mich geradezu im Land der Blühenden Kirschbäume, ich trage nahezu auf meinen Wangen zwei japanische Flaggen, ich bin fast ein Musiker, ich spiele beinahe Chopin. Ich liebe ihn bedingungslos.


Jacek Łydżba

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Sie lernte Constantin während ihres Studiums auf der Nationalen Kunsthochschule im Jahre 1899 kennen. Eigentlich mochte sie seine Holzskulpturen nicht so richtig, aber erkannte, dass da etwas Spezielles in ihnen ist; er hingegen sprach wohlwollend über ihre Gemälde. Sie machten lange nächtliche Spaziergänge durch Bukarest, den Boulevards à la Hausmann, quasi wie in Paris, entlangschlendernd; sie sprachen nicht nur über Kunst. Eines Sonntags nahm er sie mit in das Dorf ihrer Eltern, besuchte dort mit ihr Volkskünstler. Es gefiel ihr, aber sie fühlte sich hierbei weit von ihr selbst entfernt, als ob ihr Körper ihren Kopf nicht einholen könnte. Er sagte, dass er demnächst zu Fuß nach Paris aufbrechen würde. Er meinte es ernst. War sie etwa verliebt? Ja sicherlich. Und er? Er schrieb nicht, aber eines Tages schickte er ihr eine Fotografie seiner neuesten Skulptur. Vielleicht der schönsten von allen. Sie erkannte ihr Gesicht, die Form ihres Kopfes. Sie brach in Tränen aus, aber ich war nicht eifersüchtig. Als sie viele Jahre später sein Grab in Paris aufsuchte, wartete ich auf sie am Eingangstor. Sie nannte ihn immer nur: Constantin. Aber auf der Grabplatte stand geschrieben: Brâncuşi.


Jacek Łydżba

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Die Vergangenheit marschierte über ihren Kopf auf der rechten Seite. Die Seite nahm ihren Verlauf über die Grenze hinaus, über die sie nicht herüberzublicken vermochte; sie wusste einzig, dass dort ihre Enklave liegt, die einst eingenommen wurde und angebrannt ist. Sie dachte vor dem Einschlafen: ab jetzt halte ich mich nur noch auf der linken Seite auf, dieser meiner wirklichen Seite. Dort auf die rechte Seite schaue ich nicht mehr hin. Ich bleibe jetzt hier, bei mir, noch mehr bei mir und nichts wird mich beim Hiersein stören. Aber manchmal entfachte zwischen beiden Seiten ein Kampf und sie spürte auf ihr den eigenen strengen Blick lasten.

Dann schob sich eine Welle vom Kopf über den Hals in das Innere ihres Körpers: sie fühlte diese Welle stark wie eine Walze, die sich durch die Lunge und den Bauch vorarbeitet. Nach einer Weile schien die Welle abzuebben, und sie versuchte, sich vor ihrer Rückkehr zu schützen.

Sie konzentrierte sich mit allen Kräften und spannte die Gesichtsmuskulatur auf der linken Seite an; manchmal gelang ihr das sogar. Sie brauchte dann hierzu passende Bilder; das richtige Bild musste erscheinen, die ganze linke Seite ausfüllen und eine Sequenz auslösen; der fließende leichte Cut der Bilder ergab ein neues Bild, welches das vorhergehende ersetzte, bis schließlich der Schlaf erschien, gleich einer leisen Musik, eines süßen, flüsternd erklingenden Choralgesangs.


Jacek Łydżba

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Sieh dir die fünf Details an, durch welche sich die Gesichter voneinander unterscheiden.

Das erste ist eher misstrauisch
Das zweite weiß schon mehr

Das erste zögert noch
Das zweite hat seine Entscheidung gefasst

Das erste wartet
Das zweite hat sich auf einen Kompromiss eingelassen

Das erste bevorzugt es lauter
Das zweite bevorzugt es leiser

Das erste weint nur selten
Das zweite schluchzt öfters am Morgen


Jacek Łydżba

An***

Und wo ist dein Antlitz? Du hast kein Gesicht,
es befindet sich da, wo ich es mir erträume.

Dort, wo meine Hände ein Flugfeld formen,
ist es zur Zärtlichkeit immer näher und näher, kein Zurück mehr,

Wo meine Finger einen dichten Ring von Strängen bilden,
hattest Du Haare? Jetzt sind sie ganz meine.

In der Tiefe deiner Pupillen empfängst du bereits keine Bilder mehr
Der Kuppel meiner Hände erstickt sie sogleich.

Deine leibhaftige Haut, deine von mir absorbierten Augen,
es blutet aus dir, was jetzt in mir blutet.

Aus deinem Mund bis zur Stirn hin führte der gewundene Pfad.
Hattest Du Gesichtszüge? Du erinnerst dich an nichts mehr

Warum vernehme ich dann dein kaltes „Halte inne!“?
Willst du alleine weiterziehen? Nun gut, so nimm dein Antlitz mit!


Jacek Łydżba

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Wir werden euch nicht alles erzählen, unsere Geschichte ist wohl bekannt. Jedenfalls ab dem Moment, als man uns rauswarf, fanden wir einen netten Job in der Bibliothek, und mit unserem Nachwuchs beschäftigten wir und abwechselnd. Das ist amüsant, aber wenn wir so in eure Gesichter blicken, da sehen wir, dass ich alle unseren Kindern seltsam ähnlich seht.


Jacek Łydżba

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Die Barkarole belassen wir den Herren Gondoliere, aber es ist höchste Zeit – obwohl sich nicht alle trauen, das R entsprechend zu rollen – die R a d le r – R o l e zu erfinden, das Lied der rhythmisch in die Pedale tretenden Byker, in Entsprechung zum rhythmischen Eintauchen ins Wasser der Ruderstange der Gondoliere. Aber das sollte schließlich auch zur sonntäglichen Garderobe passen, wie das weiße Kleid, welches zudem eher dem Auge schmeichelt als dies etwa die Fahrradfahrer tun in ihren enganliegenden, bis zum Knie reichenden Radler-Hosen aus Lycra und ihren Hemden mit den plumpen Taschen auf der Rückseite. Das Kleid sublimiert das Fahrrad und erschließt die Schönheit seiner althergebrachten Version, nämlich des Damenrads. Die Dame auf dem Damenrad, Gesang auf der Sonne selbst. Und noch dies sei gesagt: jetzt wird besser begreiflich, wie von Miron Białoszweski die „Ferroviariole“ (im Original die „Pociągola“), das Lied des Passagierzugreisenden, entwickelt wurde.

Radler-Role

Heh, hops, hoppla!
Allzeit zur Abfahrt klar
In die Pedale mit ganzer Sohle
Heh, Radler-Role!


Jacek Łydżba

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Wir haben bisher noch keine hässliche Brücke gesehen; alle Brücken haben etwas Schönes, Unwiderstehliches. Diese habe ich mir speziell ausgewählt. Man konnte schließlich nicht erkennen, ob sie überhaupt bis zum anderen Ufer reicht. Ein jedes Mal standen wir vor ihr wie vor einem Tor, das in eine andere Welt führt. Dorthin, wo es keine Gesichert mehr gibt.


Jacek Łydżba

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Meine Nächte sind schöner als eure Tage.




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