Das Studium des Lichts

Beata Chomątowska Von Beata Chomątowska



Dieses Haus ist anders Haus als die anderen, eigentlich drei Häuser in einem, verbunden durch eine gemeinsame Fassade. Große Fenster auf die Gartenseite, die Vorderseite zeichnet sich durch eine Reihe kleiner Fenster aus, an ein Fabrikgebäude erinnernd. Das Treppenhaus erinnert an die Kommandobrücke eines Schiffes. Und die anderen fünf „Must-Haves“ der modernen Architektur von Le Corbusier: ein offener Grundriss, eine frei gestaltete Fassade, ein Garten auf dem Flachdach und eine auf diesen Dachgarten führende Wendeltreppe.

Maria Kiesner

Im Innenbereich: Jedes der drei Geschosse stellt im Grunde genommen eine separate Wohnung dar. Die Küche, die in der Zwischenkriegszeit als schmutzige wirtschaftliche Wohnfläche galt, befindet sich im Erdgeschoss gleich neben dem Eingang. Auf der gleichen Ebene befindet sich eine mikroskopisch kleine Toilette. Einen repräsentativen Teil gibt es in dieser Behausung nicht, es sei denn, man betrachtet das riesige Wohnzimmer im ersten Stock als einen solchen Bereich, der dem Haupttheoretiker der Avantgarde-Gruppe „Praesens“ nachzurufen scheint: „Weg mit dem Raumkörper!“. Diese Architektur ist frei und offen, ja verbindet sich mit ihrer Umgebung in einer solchen Weise, als wolle sie mit ihr verschmelzen. Im ganzen Haus kann man Spaß daran haben, nach Ebenen zu suchen, die mehrdimensionale Kompositionen schaffen, auf der vertikalen, der horizontalen Ebene sowie der Ebene der räumlichen Tiefe. Das ist Mondrian, aber auch Strzemiński, die in diesen Räumlichkeiten dem Architekten Bohdan Lachert ihre Theorien vermittelten: Durch den richtigen Einsatz von Farben kann man plastische Rhythmen erschaffen, die dem Bewegungsrhythmus im Innenraum entsprechen. Und damit sie die räumliche Einheit bewahren, verwendet man am besten Farben mit der größten Vielfalt an darin enthaltener Energie. Schwarz, Weiß, Grau, Gelb und Blau – und ebendiese Farben kamen auch zum Einsatz. Es gab dort ferner Hybrid-Möbel – ebenfalls von Lachert entworfen – die eine perfekte Umsetzung der Theorie Strzemińskis auf Alltagsgegenstände darstellte. Die gesamte Sitz-Garnitur ist aus Holz und Metall gearbeitet, und jede Seite ist in einer anderen Farbe lackiert, um den Körper in mehrere Ebenen zu unterteilen, die die Oberfläche aufbrechen.

Maria Kiesner

Ohne dieses Haus gäbe es vielleicht keine Gemälde von Maria Kiesner. In diesem Dreifamilienhaus auf der Katowicka betreibt unter der Hausnummer 9 seit einigen Jahren bereits die Stiftung „Holländisches Haus“ ihre Tätigkeit. Die Architekten Agnieszka und Tadeusz Bienias, die die Stiftung leiten, schenkten der Malerin eines Tages ein Album, das dem Werk von Gerrit Rietveld gewidmet war. Beim Durchblättern dieses Albums staunten sie gemeinsam über den guten Zustand der Erhaltung seiner Gebäudeprojekte in den Niederlanden. Und an dieser Stelle fällt es schwer, das von Carl Gustav Jung beschriebene Phänomen der Synchronizität nicht zu erwähnen: Geschichte und Zeit schließen den Kreis, denn dies war ein anderes Haus, nämlich das Rietveld-Schröder-Haus am Stadtrand von Utrecht, entworfen für die Bauherrin und gleichzeitig Rietvelds Freundin Truus Schröder-Schräder. Dieses Haus stellte Lacherts schiere Obsession bereits in seinen Jugendjahren dar. Nach einer gemeinsamen Studienreise in die Niederlande im Jahre 1926 zusammen mit Józef Szanajca kam er nicht darüber hinweg, dass es ihnen nicht gelungen war, dort zu bleiben und zuzusehen, wie das Haus entsteht und wächst. Ein „Haus-Gemälde“ geradezu, eine dreidimensionale Abstraktion. Ein Gebäude, dessen Fassade von grauen und weißen Flächen durchschnitten wird, im Kontrast zu Mondrians Grundfarben Gelb, Rot und Blau. Im Innenbereich verschiebbare Trennwände mit der gleichen Farbgebung. Das Weiß der Wände, die Akzente der verwandten Primärfarben auf den Fensterrahmen, auf Fragmenten von Wänden und Böden sowie von Möbeln, unter ihnen der berühmte rot-blaue Lehnstuhl aus lackiertem Holz, ein Manifest des von der Gruppe „De Stijl“ entworfenen Designs.

Maria Kiesner Maria Kiesner

Und zudem die Synchronizität: Rietvelds Haus inspirierte Lachert und Lacherts Haus inspirierte viele Jahre später den Präsidenten des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag Manfred Lachs, der es kaufte und die Einrichtung der Stiftung „Holländisches Haus“ dort vorsah, in deren Räume Maria Kiesner die Werke Rietvelds studierte. Bald darauf schmückten ihre eigenen Bilder die Wände des Hauses, unter ihnen auch das Bild des Lachert-Hauses. Damit verschwanden symbolisch ein weiteres Mal die Barrieren zwischen Innen und Außen.

Maria Kiesner Maria Kiesner

„Ich begann damit, Fotografien mit Außen- und Innenansichten der Häuser Rietvelds genau zu betrachten.“, sagt Kiesner. „Dann entstanden, wie bei großen Projekten, kleine Collagen aus Fotos aus dem Buch, die später als Skizzen für größere Gemälde dienen.“

Maria Kiesner Maria Kiesner

Allem Anschein entgegen spenden horizontale Fensterbänder an der Fassade mehr Licht als solche in tragenden Wänden. Das meiste Licht fällt jedoch durch die großen Glasflächen vom Garten her. Große, gardinenfreie Fenster – ein charakteristisches Element der niederländischen Architektur – sogar der traditionellen, wo „der Himmel zu niedrig ist“, um den Titel eines der kulturwissenschaftlichen Bücher zu travestieren. Ein weiter Horizont, ein hoher Himmel, der drei Viertel des Plans einnimmt, Land und Meer. Beim Malen von Gebäude von außen verlor Maria Kiesner im Laufe der Jahre die Landschaft um sie herum. In der Miniaturserie ist sie vorhanden, aber nur vor den Fenstern, durch deren Scheiben gefiltert. Das Licht ordnet die Elemente des Dekors.

Maria Kiesner Maria Kiesner

„Das Erscheinungsbild, insbesondere dieses Innenraums, des Hauptraums (…) wurde in einer viel puristischeren Weise gestaltet. Ich habe damals versucht, diesen Wohnraum nicht mit Gegenständen anzufüllen, die jedoch ein jedes Mal an dessen architektonischen Grundriss angepasst werden mussten“, sagte Lachert einige Jahre vor seinem Tod über die Katowicka-Straße 9. Trotz seiner Bemühungen wucherte die Behausung allmählich zu: der Kaminsims mit Reiseandenken, darunter natürlich auch Delfter Porzellan, die an der Decke verlaufenden Rohre – zu kleinen Skulpturen, die Wände – mit dekorativen, eingemauerten Wandtellern. Der für die Moderne typische Geist der Einfachheit verflüchtigte sich allmählich. Auch Kiesner verleiht den in ihren Miniaturen dargestellten Häusern und deren Interieurs einen individuellen Charakter, bei ihr ist dieser Prozess allerdings umgekehrt: Sie simplifiziert die Treppenblöcke, die Tische und Stühle, destilliert deren Formen mit Licht.

Sie selbst stellt sich, wie sie sagt, die anhand von Fotografien gezeichneten Rietveld-Häuser ähnlich vor wie die aus der Bauhaus-Professorenkolonie in Dessau. Irgendwann möchte sie endlich in sie hineinschauen. Möglichweise findet sie dann bei dieser Gelegenheit in einem von ihnen das, was sie dort selbst in ihren Bildern platziert hat.



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