Unsere Körper, unser Leben

Paulina Reiter Von Paulina Reiter



Was kann passieren, wenn ein junges Mädchen Dinge aufschreibt, die es für wichtig hält? Und was, wenn diese vorwiegend Sex und seinen nackten Körper betreffen? „Beim Malen setze ich mich mit meiner Körperlichkeit auseinander, ich will mich selbst genauer betrachten“, sagt Agnieszka Sandomierz. Will noch jemand sie in ihrer Intimität betrachten? Seid gegrüßt, Voyeure, in der sexuellen Welt einer jungen Frau am Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts.

In den Foren kocht es vor Aufregung. Die Internauten sind entsetzt. „Mädel, du bist krank“, schreiben sie. Andere dagegen sind hingerissen und meinen, Agnieszka Sandomierz’ Bild sei das beste Werk, das für den Wettbewerb „Bild des Jahres“ eingeschickt wurde. Eins ist sicher: Die Liste der Meinungen zu diesem Bild ist viel länger als die Listen unter vielen anderen Werken.

Agnieszka Sandomierz

„Wie verklemmt“, schreibt die Benutzerin Magenta. „Ihr seid über die Künstlerin hergefallen, als ob sie Fotos aus dem „Hustler“ nachzeichnen würde. (…) „Das Niveau der Kommentare klingt wie das Motto: ‚Die Schlampe soll es treiben.‘ Seht ihr keinen Unterschied zwischen Erotik und Porno? Einige von euch sind doch auf die subtilen Farben, die ruhigen Linien und die Komposition aufmerksam worden. Warum greift ihr die Künstlerin an? Weil sie eine Frau ist und ein gutes erotisches Bild gemalt hat?“

Ich kann keine nackten Frauen mehr sehen, schreibt Nil. Das war gut in den Neunzigern, als sich Polen dem Westen öffnete und die Leute an so was Spaß hatten.

Eins stimmt: Seit den neunziger Jahren hat der Körper wegen der politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen in Polen einen festen Platz als Thema in der Kunst gefunden. „Bisher als unwichtig betrachtet, wurde er, wenn nicht zu einem grundlegenden Paradigma, so doch zu einem wichtigen Thema für Künstler, Kritiker und Kunsthistoriker“, schreibt Agata Jakubowska in ihrem Buch „Am Rande der Spiegel: der weibliche Körper in den Werken polnischer Künstlerinnen“. Frauen werden durch ihren Körper definiert. Künstlerinnen greifen das intime, mit der Körperlichkeit verbundene Thema auf, auf der Suche nach einer anderen als der männlichen Art, Weiblichkeit zu präsentieren. Sie erzählen von sich selbst und enthüllen das, was bisher ein Rätsel, Geheimnis und Tabu war.

Agnieszka Sandomierz Agnieszka Sandomierz

Jemand meinte, ich wandele am Rand des psychischen Exhibitionismus, sagt Agnieszka Sandomierz. „Er hatte Recht.“

Ein nackter Mann liegt erschöpft auf dem Bett. Vielleicht schläft er. Eine junge Frau sitzt am Rand des Bettes und zieht ihre Strümpfe an. Oder: Eine junge Brünette befriedigt sich, ihre Augen sind halbgeschlossen. Neben ihr sitzt ein scharfer Hund und schaut dem Betrachter direkt in die Augen. Oder: Im Vordergrund steht eine junge Frau im Schlafrock. Zwischen ihren Beinen ein Blutfleck, aber es könnte eine Täuschung sein. Links dahinter sitzt ein nackter junger Mann. Hatten sie gerade Sex?

Es sind drei von vielen intimen Szenen, die Agnieszka Sandomierz gemalt hat.

Intime Tagebücher sind Zeichen unserer Zeit. Wegen ihrer Fotos erlebte die einundzwanzigjährige Amerikanerin Natascha Merritt einen großen Skandal und zugleich einen Erfolg. Sie veröffentlichte sie im Internet, später in Form eines Albums unter dem Titel „Digital Diaries“ (Taschen Verlag). Mit einer Digitalkamera dokumentierte sie Begegnungen mit Männern, Selbstbefriedigung, sie ließ ihren Körper und seine intimsten Teile von ganz nah betrachten. Anna Nizio stickte Penisse von Männern, mit denen sie geschlafen hatte. Anna Niesterowicz zeigte ein Video, auf dem sie mit einem Mann Sex hatte, bis hin zu dem Moment, als aus ihrer Nase Blut floss. Agata Bogacka malte Bilder von ihren Liebhabern. In der „Serie“ aus dem Jahre 2001 liegt sie wie tot auf dem Boden. Um sie stehen drei nackte Männer.

Nan Goldin beschrieb in ihrem Fototagebuch nicht nur ihr eigenes Intimleben, sondern auch das ihres Bekanntenkreises. Wir sehen Leute in homosexuellen Beziehungen, während erotischer Höhepunkte, im Bett mit blau geschlagenen Augen. Die britische Künstlerin Tracy Emin reichte für den Turner-Preis-Wettbewerb ein zerwühltes Bett mit herumliegenden Kondomen, Spielzeug, Strümpfen, etc. ein. Ein Skandal erweckte auch ihr Werk „Alle, mit denen ich schlief“ – ein Zelt, auf dem die Namen aller Personen genäht wurden, mit denen die Künstlerin das Bett geteilt hatte.

Agnieszka Sandomierz Agnieszka Sandomierz

Der weibliche Körper und seine Sexualität wurden zu einem modischen und aktuellen Thema. Er wurde wichtig.

Warum sollten wir dem Intimleben von irgendjemandem zuschauen? Wenn ich Agnieszka Sandomierz’ Werke betrachte, könnte ich sagen: aus Neugier und Mitgefühl. Aus Neugier, weil zur Natur des Betrachters heimliche Beobachtung gehört. Agnieszkas Bilder erfüllen dieses Bedürfnis. Ich habe das Gefühl, als ob ich durch ein Schlüsselloch irgendjemandes Leben zusehe, durch ein Fenster einen Teil des Alltags meiner Nachbarin beobachte, einen Teil, der normalerweise vor den Blicken der anderen versteckt bleibt.

Aus Mitgefühl, weil ich bei der Betrachtung der gemalten Szenen, so scheint es mir, sie selbst erlebe. Die komplizierten zwischenmenschlichen Beziehungen, die Einsamkeit zu zweit, die Sehnsucht, gegenseitige Anziehung und Abstoßung.

Obwohl völlig privat, sind Agnieszkas Bilder auch vollkommen universell. Sie mögen ergreifen oder empören, aber immer betreffen sie direkt den Betrachter.

Wählt sie nicht, wenn sie nicht zu euren Rechten stehen. Schlaft nicht mit ihnen, teilt mit ihnen kein Brot, wenn sie unsere Freiheit nicht respektieren – unser Recht, über unser Leben und unseren Körper zu entscheiden. Ich bin keine Feministin der Zeit des Postfeminismus. Ich bin die dritte Welle, schrieb im Jahre 1992 Rebecca Walker, Tochter von Alice Walker, einer Hauptfigur des schwarzen Feminismus der siebziger und achtziger Jahre, Autorin unter anderen der berühmten „Farbe Lila“.

Agnieszka Sandomierz’ Malweise unterscheidet sich von der Art und Weise, wie ihre Vorgängerinnen die Körperlichkeit darstellten. Man könnte sagen, es ist ein ähnlicher Unterschied wie zwischen der zweiten und der dritten Welle des Feminismus. Die Künstlerinnen der siebziger Jahre (in Polen die Vertreterinnen der kritischen Kunst der neunziger Jahre) wollten vor allem den weiblichen Körper „anders“ darstellen als in der patriarchalischen visuellen Kunst. Sie zeigten – so Agata Jakubowska – den „echten“ Körper. Echt, also kein erotisches Objekt, nicht durch die Kultur manipuliert, natürlich. Sie interessierten sich für die Biologie des Körpers, für die Physiologie. Sie wollten die bisherige Betrachtungsweise des weiblichen Körpers angreifen.

Ich habe den Eindruck, dass sich Agnieszka Sandomierz für einen Kampf um die neue Darstellung der Frau nicht interessiert. Aber sie interessiert sich für die von Rebecca Walker erwähnte Freiheit. Sie ist wie die Feministinnen der dritten Welle, die die Erfolge ihrer Vorgängerinnen als selbstverständlich betrachteten und sich frei in dem erkämpften Raum bewegten. Interessanterweise waren Agnieszka Sandomierz’ frühen Werke (zum Beispiel ihre Diplomarbeit bei Professor Szamborski) näher an der Ästhetik der zweiten Welle des Feminismus – sie zeigten den weiblichen Körper fragmentarisch, mit Sekreten bedeckt. Es sind beunruhigende Bilder. Die Körper auf den neuen Bildern können wir mit Vergnügen betrachten. Es sind keine Abbildungen, die abschrecken sollen. Ihre Bilder sind angenehm, beinahe dekorativ. „Dass sie attraktiv sind, ist doch gar nicht schlecht, oder?“, fragt die Künstlerin. „Jeder mag schöne Sachen um sich haben.“ Die wichtigste Frage jetzt lautet: In welche Richtung wird Agnieszka Sandomierz gehen? Wie werden sich unsere Körper und ihre Darstellung ändern, wenn sie älter werden?

Als Madonna, die Pop-Ikone, im Jahre 2001 den Turner-Preis und zwanzigtausend Pfund an Martin Creed für seine Arbeit, in der sich je fünf Sekunden Lichter ein- und ausschalteten, überreichte, sagte sie, dass Kunst nichts mit Geld zu tun habe, sondern mit Liebe. Martin Creed bekräftigte in Interviews, dass alle seine Werke aus dem Bedürfnis entstehen, geliebt zu werden.

Ist es falsch, wenn ich behaupte, dass Agnieszka Sandomierz’ Werke auch viel mit Liebe gemeinsam haben und aus demselben Bedürfnis entstehen? Die Künstlerin gibt selbst zu, dass sie wichtige Momente aus ihrem Leben aufnehmen will. Und für die wichtigsten hält sie die Augenblicke, in denen sich Körper annähern und in denen sich einsame Körper nach anderen sehnen.

Wen wundert es, dass eine moderne junge Frau kein Interesse für historische Ereignisse, Politikgeplänkel oder für die Kritik an den Konzernen zeigt? Die Distanz zur Politik ist typisch für Agnieszka Sandomierz und für viele andere Künstler, die sich bewusst auf kleine Erzählformen und private Geschichten konzentrieren, auf solche also, bei denen es leichter ist, wahre Gefühle zu finden. Wenn sich große Geschichten diskreditieren, kann man nur dem vertrauen, was am nächsten steht, was am intimsten ist.

Feministinnen der zweiten Welle würden sagen, alles sei politisch, der Körper sei eine Sphäre, in der sich das Biologische mit dem Sozialen und dem Politischen überkreuze. Ich glaube nicht mehr daran. Besonders im Hinblick auf Agnieszka Sandomierz’ Bilder. Ihre Körper sind überhaupt nicht politisch und werden es nie sein. Sollten sie so interpretiert werden, dann infolge eines Missverständnisses, einer Pseudo-Moral, einer „einzig wahren“ Ideologie, die sich der Nacktheit schämt und die es verbietet, das Intime zu zeigen. Agnieszka Sandomierz betrachtet den Körper ohne ideologische Ausrüstung. Unschuldig.

Letztes Jahr erschien in Polen ein legendäres Buch: Unsere Körper, unser Leben. Es ist signifikant, dass es jetzt, in der Zeit also, in der sich die Kunst immer mehr für den Körper interessiert, veröffentlicht wurde (dreißig Jahre nach der Erstausgabe, die 1970 während der zweiten Welle des Feminismus in den USA erschien). Unsere Körper, unser Leben ist ein Führer durch den weiblichen Körper, seine Gesundheit, Sexualität, Pubertät, Wechseljahre, Altern, Schwangerschaft und Mutterschaft. Kürzlich wurde es zu den bedeutendsten Büchern der letzten fünfundzwanzig Jahren gekürt. Was es von anderen Ratgebern unterscheidet, ist die Tatsache, dass es von Frauen für Frauen geschrieben wurde. Sein intimer Charakter wird durch hunderte emotionale und persönliche Briefe gewöhnlicher Frauen untermauert. Der Titel der Erstausgabe lautet „Frauen und ihre Körper“ („Women and Their Bodies“). Bevor die zweite Auflage erschien, kam eine der Autorinnen auf eine Idee: Es sind keine Frauen und ihre Körper – es geht hier um uns und um unsere Körper. Genauso ist es mit den Bildern von Agnieszka Sandomierz – es geht hier um uns und um unsere Körper.



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