Die Straße

Sławomir Shuty Von Sławomir Shuty



Alles hatten wir da, was sein mußte, man brauchte nirgendwo hinzugehen – am Ort gab es alles – einen Hort, einen Kindergarten, eine Penne, eine Bauberufsschule, einen Schuster, eine Mangel, einen Schneider, einen Gemüseladen, einen Lebensmittelladen, eine Apotheke, ein Kulturhaus, eine Videothek, Garagen, Zeitungskioske, nur eine Kirche fehlte und eine sogenannte Gesundheitsambulanz, in denen alte Weiber und nicht mehr junge Typen ihre Sorgen und Wehwehchen beichten könnten – alles in grauen Formen geschlossen, die, von oben betrachtet, an ein komisches, spielzeugmäßiges, mit der zur Verstärkung des realistischen Effekts absichtlich gelegten Patina glänzendes, auf einem verschossenen Teppich ausgebreitetes Städtchen einer Eisenbahn erinnern konnten, das Knirpse, in Vorahnung der auf sie wartenden Spielsachen aufgeregt, unter dem nach entferntem Lärchenduft riechenden Plastikweihnachtsbaum fanden; ein Städtchen, in dem alles stand, einzig die Eisenbahn fehlte.

Maria Kiesner Maria Kiesner Maria Kiesner Maria Kiesner Maria Kiesner

In den Milchkartons, in gleicher Reihe aufgestellt, wie in Manier eines sozialistischen Architekten, hat eine nicht sonderlich geschickte Hand eines Künstlers, der wegen seines emotionalen Engagements und technischer Einfachheit der Anfertigung zu den Schöpfern der naiven Kunst gerechnet wurde, ein Gewirr von Funk- und Fernsehantennen gemalt. Taubenschläge aus Draht, auf dem Dach zerstreut, Eingänge zu den Treppenhäusern, mit graublauen Glasziegeln geschmückt, mit weißen Gardinen verdeckte Fenster, in den mal Topfpflanzen grünten, mal Kunstblumen röteten, die Heiligenbilder schmückten; quadratische Fenster der Abstellräume und des Trockenbodens hat man mit ähnlichem Defizit an Sorgfalt aufgetragen.

Selbst der im Nachbarviertel gelegene, mit dem Turm alles überragende Tempel des Herren erinnerte an einen chaotischen Haufen von Eierschachteln, eine Mischung aus Weihnachtskrippe und blecherner Ausstellungshalle, obwohl er aus der fernen Perspektive mit seinem schiefen, sich in verschiedenen Ebenen senkenden Dach wie eine mutige, avantgardistische Architekturidee aussehen konnte, die nur  ideologisch überholt wurde. Er steckte dort inmitten der Halden, eines geschlossenen Flughafens, der Resten von unvollendeten Bauten und der Haufen von Betonplatten, gespickt mit bedrohlich herausragenden Drähten, wie eine billige Floskel innerhalb einer ordentlich konstruierten methodischen Empfehlung.

Die Gruppe jener traurigen grauen Platten, eufemistisch Siedlung genannt, in Obhut einer nach Schmiergeld stinkenden  Wohnungsbaugenossenschaft sowie der unter den Bäumen abhängenden gealterten Figuren, genannt Aktivisten oder anders Ehrenamtliche – ihre Aufgabe war, die auf dem Gras spielende Kinderschar (na klar, Gras muß man schonen, hier gibt's kein Erbarmen) zu vertreiben – war eine autarke Einheit, absichtlich dafür entworfen, damit ein Arbeiter, nach dem Tag der Plackerei müde, alle seine körperlichen Bedürfnisse am Ort erledigen kann, was praktisch bedeutete, daß wenn das sonnenhelle Ende des Monats kam, also der Zahltag, die Büsche, Bäume, Hügel und Rasen sich mit halb aufgerichteten zerknitterten Gestalten füllten, die mal einander stießen, mal sangen, mal ihre Schritte in die Richtung der Nachbarsiedlung lenkten, um einen in den lokalen Clans schlummernden Streit zu lösen.

Hej, wie prügelten sich Jungs mit Jungs, wie sie einander an Jacken zerrten, aufeinender mit Schleudern schoßen, mit Plastilin aus Blasröhrchen feuerten, Petarden knallen ließen, Schwefel- und Saletrabomben schmissen, Plastiktüten mit Wasser füllten, einander in den Hintern traten, denn alle waren gegen alle, Viertel kontra Viertel, Häuserblock kontra Häuserblock, Treppenhaus kontra Treppenhaus, Etage gegen Etage, und rotbackige Mädels standen rum und hetzten auf: Töte ihn! Töte ihn! Gib's ihm! Laß dich nicht unterkriegen! Zeig, was du kannst! Daß du ein Kerl bist, kein städtischer Lahmarsch! Hej, und einzig ein Schritt weiter, hinter der Straße, vermöbelten der Volksmacht treu ergebene motorisierte Einheiten der Ordnungsdienste mit Knüppeln den ganzen oppositionellen Rest... Alles war damals schwarz und weiß, weiß und rot, nur die Häuserblocks standen in grauen Tönen, wegen des Fabrikstaubs, der hierher nachts eindrang – denn nachts, wenn alle schliefen, wurden die schlimmsten, die giftigsten Abgase ausgelassen.

Hier lebten wir, hier rissen wir den Mund auf und fackelten Gummireifen ab, hier starben wir ohne Klage am durch den süß-sauren Wein verursachten Weltschmerz, hej! Das waren aber andere Zeiten, man mußte sich nicht um irgendwas bemühen, nach irgendwas vergebens suchen, sich verlagern, sich fortbewegen, wozu? Wohin? Da man hier am Ort alles hatte, hier in dieser mit der schwarzen Sonne übergossenen Straße, genügte es, zweimal im Jahr zur Beichte zu gehen und in der österlichen Zeit die heilige Kommunion zu empfangen – ja, einfache Regeln, normale Sachen, wo jetzt die Welt auf dem Kopf steht oder eher alles sich um den Schwanz dreht.



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