Am frühen Vormittag

Wojciech Tuleya Von Wojciech Tuleya

Łowicz V, VII, XIV, XVII, Reihe 55: per Anhalter, Bleistiftzeichnungen, 1966, 31 x 49 cm

Am frühen Vormittag des 4. Juni 1966 stieg Edward Dwurnik aus einem Zug am Bahnhof in Łowicz aus. Er verschwendete keine Zeit und die ersten Zeichnungen waren nach einer halben Stunde fertig. Wegen der Bezifferung (Dwurnik ist ein äußerst penibler Archivar) können wir davon ausgehen, dass an dem Tag etwa um die 30 Werke entstanden. Straße nach Straße, Ansicht nach Ansicht. Dwurnik zeichnete bis zum Abend, mit nur einer Pause für ein Wurstbrot. Er kümmerte sich um eine Übernachtung erst, als es dunkel wurde. Am Markt, direkt über dem Restaurant „Łowiczanka“, befanden sich zwei Schlafsäle: einer für Männer, der zweite für Frauen, mit jeweils fünfzehn Betten. Im Männersaal tranken gerade Lastwagenfahrer, die Bedienung schickte also den Studenten aus Warschau in den Frauensaal, der gerade leer war. Nach einer Stunde kamen vier Frauen, zogen sich aus und gingen ins Bett. Bis heute kann sich Dwurnik an ihre rosa Unterröcke und Nylonmieder erinnern. Bevor sie das Licht ausmachten, beobachtete er sie heimlich unter seiner Decke. Sie standen alle vor der Dämmerung auf, um an Fronleichnam pünktlich zu sein. Sie marschierten in der Prozession, er dagegen erreichte nach ein paar Stunden per Anhalter Skierniewice, wo er gleich anfing zu zeichnen

Edward Dwurnik

Sobald eine Zeichnung fertig war, ging er weiter, hielt wieder an und öffnete seinen Notizblock, da die Ausblicke wie in einem Kaleidoskop wechselten. Er war hungrig nach Bildern, gierig und um jedes Detail eifrig bemüht. Dasselbe ereignete sich in den nächsten Tagen in Pabianice und Zgierz, wohin er mit der damals noch existierenden, längsten Straßenbahnlinie Osteuropas ankam. Nur in Łódź zeichnete er nicht. Die großen bürgerlichen Altbauten schüchterten ihn ein, er war ihnen noch nicht gewachsen.

Diese Reise per Anhalter – eine von vielen – endete nach zwei Wochen im schlesischen Paczków. Eine Nacht am Bahnhof. Erkältet wartete er auf den Frühzug nach Warschau. Das letzte Geld reichte für einen Tee mit Zucker.

Die künstlerischen Mittel dieser frühen Arbeiten sind minimalistisch: ein paar unterschiedliche weiche Bleistifte auf gutem, teurem Papier. Wenn wir genau hinschauen, können wir sogar nachzählen, wie oft er den Bleistift anspitzen musste, um eine Arbeit zu vollenden. Bei aufmerksamer Betrachtung erzählt uns die Linie viel mehr, manchmal verrät sie alles: die Euphorie, die Müdigkeit, die Ungeduld, sie spiegelt Zufriedenheit und Eile wider.

Die Linie ist launisch, wenn sie die rundlichen Pflastersteine und klapprigen Zäune bearbeiten muss. Sie ist ernst, wenn sie auf einen Kirchturm klettert und ihn mit einem Barockhelm krönt. Das Auge wird mit den schwierigsten Perspektiven fertig. Alle wissen, dass für Vedutenmaler die Bednarskastraße in Warschau die größte Herausforderung Masowiens darstellt. Sie läuft nicht nur steil nach unten, sondern am Ende biegt sie auch noch scharf ab. Dwurnik zeichnete sie routiniert für seine Bekannten, Studenten der Architektur. Sie schenkten ihm dafür das streng rationierte Ingress-Papier, auf dem er Łowicz zeichnete.

Obwohl sich Dwurnik auf das Hier und Jetzt von Łowicz konzentriert, schimmert durch den grauen Alltag der Gomulka-Zeit die ehemalige historische Pracht dieser Stadt. Mit ihrer Primasresidenz war sie eine Art polnisches Salzburg. Die ewige Architektur ruft Achtung und Respekt hervor. Die Geschichte Europas, mal majestätisch, mal gewöhnlich, zeigt sich an den Fassaden der Kirchen und Häuser.

Russische Radare. Fahrt zur Einheit. Freiheitsplatz. Katerfrühstück. Reihe 54: Kołobrzeg, Bleistiftzeichnungen, 1969, 34 x 49 cm

Man schreibt das Jahr 1969. Wieder Sommer. Dwurnik verbringt eine Woche beim Freilichtmalen in einer Armeeeinheit in Kołobrzeg. Und wieder zaubert er Zeichnungen aus dem Hut. Leben in der Kaserne, Leben im Urlaub, Leben der Verliebten auf einer Seepromenade. Auf jeder Zeichnung ausdrucksvolle Details. Piastische Adler auf Armeemützen, klapprigen LKWs und Obelisken, die die knutschende Jugend verbergen. Die Linie ist sanfter, nicht mehr so hitzig wie vor drei Jahren in Łowicz.

Edward Dwurnik

Die Formen sind mit einer ruhigen, beherrschten Kontur versehen, manchmal ganz subtil, fast zu „schön“ für diese Gattung des zeichnerischen Berichts.

Dwurnik zeigt hier zum ersten Mal, was für ihn Mittel und was Zweck ist. Er wurde Zeichenvirtuose nicht, um damit zu prahlen, sondern um unbekümmert mit den Formen aus der Umgebung umgehen zu können. Er ahnt, dass er die Technik perfekt beherrscht. Umso freier taucht er in die Realität ein. Es macht nichts, dass er im Gegensatz zu Picasso keine Persönlichkeiten wie Cocteau oder Strawinsky porträtieren darf. Kann ein Feldwebel der polnischen Volksarmee nicht ein genauso gutes Modell sein? Der Linie ist es letztendlich egal, ob sie über die kluge Stirn Strawinskys wandert oder über den Stiernacken des Feldwebels. Wen wir betrachten, entscheidet eine Laune der Geschichte.

Im ganzen „Kołobrzeg“ spüren wir, dass Dwurnik keinem Zug oder Auto nacheilen musste. Nachmittags, als die Studenten keine Propagandatafeln mehr malten, konnte er stundenlang an seinen Zeichnungen feilen. Der Ort verdankte seine vertraute Atmosphäre den Gerüchen: einer Mischung aus der muffigen Feuchtigkeit der Korridore und den Duftwellen, die während der Essenszeiten aus der Kantine schwebten.

Dwurnik zeigt seine ganze Kunstfertigkeit in der Studie des „Maschinenparks“ der Kaserne. Seine Fantasie stellte sich auf die Ingenieurskunst um, seine Hand zeichnete ohne Schwierigkeiten faszinierende Objekte: eine zurückgelassene Haubitze, ein verrostetes Planiergerät, ein Gewehrständer. Sein Bleistift ist vollkommen indifferent. Er selbst ist wie der lapidare David beim Skizzieren von Marie Antoinette.

Klimontów. Reihe: 1, Aquarell, 1965, 23,5 x 35 cm

Edward Dwurnik

Wir schreiben wieder das Jahr 1965. Trotz verblasster Farben und brüchigen Papiers entzückt das Aquarell „Pfarre in Klimóntow“ durch seine Einfachheit, Ehrlichkeit und Reinheit. Es ist das Werk eines 22-jährigen, jungen Mannes. Wir wollen einem Geheimnis der Kunst nachspüren: Wie entsteht Stil? Die größten Künstler haben irgendwo eine Grenze, die wir nicht durchschauen sollen. Der 22-jährige Dwurnik aber war auf dem besten Wege: kurz nach seiner Erleuchtung, deren Glanz bis heute auf diesem Papierstück schimmert. Zum ersten Mal ist hier der hastige Rhythmus der architektonischen Formen zu sehen. Welche Bedeutung hatte das Treffen mit Nikifor im Hof der Warschauer Kunstakademie? Hat es überhaupt stattgefunden, oder ist es nur ein Mythos, erfunden von einem jungen Künstler, um seiner Bewunderung für einen alten Meister Ausdruck zu verleihen?

Soldaten fahren die Straße entlang. Reihe: 2, Städte, Aquarell, 1968, 33,5 x 48 cm

Edward Dwurnik

Am 8. März 1968, als er vor der Polizei floh, rannte Dwurnik auf der Trauguttstraße gegen eine Straßenlaterne. Die Wunde am Kopf heilte, Traugutt wurde zum Helden vieler seiner Bilder. Einen Milizionär zu malen war ein Verstoß gegen die Zensur, ein operettenhafter Söldner auf einem Schaukelpferd erregte dagegen keinen Verdacht. Die puppenähnlichen Gestalten erwecken keine Angst wie die Visage oder der Knüppel eines Milizoffiziers. Ihre Präsenz in polnischen Städten aber verrät eine tiefe Unruhe, die für Dwurniks Welt- und Geschichtsbild typisch ist. Die spürbare, pulsierende Anarchie berührt ihn sehr. Immer wieder zeigt er kleine und große Revolten: Schlägereien, Getümmel, Saufereien, sexuelle Orgien. Die allgegenwärtige Gewalt, Unrecht, ausgeschlagene Zähne sind eine Tatsache. Wir können sie nicht verleugnen, wir dürfen nicht wegschauen. Das einzige, was uns bleibt, ist uns selbst vor diesem Wahnsinn zu schützen. Gerecht oder ungerecht, die Opfer zufällig oder selbst schuld? Wer soll darüber entscheiden? Vorsichtshalber ist es besser, sich zu distanzieren: die Forderung „Brot!“ mit dem ironischen „und Fleisch!“ zu ergänzen und von einer Parisreise nicht nur einen Bildband von Bernard Buffet mitzubringen, sondern auch eine Maomütze und eine entsprechende Uniform.

Edward Dwurnik

Als sich der 14-jährige Edzio, damals Schüler in Radzymin, auf die Aufnahmeprüfungen an der Kunstoberschule vorbereitete, übte er stundenlang mit einem Modell. Seine Mutter, Wladyslawa Dwurnik, posierte für ihn. Schon damals musste der Knabe ahnen, dass es kein Kinderspiel ist, ein Künstler zu sein. Die ältere Dame fiel nämlich beim Zeichnen dreimal in Ohnmacht. Sein anderes Modell und zugleich sein Lehrer, der berühmte Maler Czesław Wdowiszewski, wurde ebenfalls regelmäßig auf diese Probe gestellt. Er reagierte immer wieder mit einem Nickerchen. Es war seine Frau, Nina, die während der Mappenpräsentation der jungen Schulkandidaten dem 14-Jährigen laut zurief: „Edziu, du hast schon bestanden!“ Edzio nahm seine Zeichnungen aus der Mappe und legte sie auf die repräsentative Schultreppe. Er fing im Erdgeschoss an, verschwand im ersten Stock, ging in den zweiten. Nach dem dritten kam dann das Dachgeschoss. In dem alten Warszawa, mit dem sein Vater ihn zur Prüfung in Radzymin brachte, gingen die Stoßdämpfer kaputt.



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